Vortrag und Demonstration bei den Solothurner Literaturtagen 25. bis 27. Mai 2001
in: Literatur in Westfalen, Beiträge zur Forschung 8 (2006), Aisthesis-Verlag 2006, S. 295ff.

Reinhard Döhl, Johannes Auer

Text - Bild - Screen // Netztext - Netzkunst


Figurata // Emblem
Text im Bild // Marcel Duchamp
verwischte Kunstgrenzen // Kurt Schwitters
Suppendosen Konzepte // Andy Warhol
Die Stuttgarter Gruppe
Screen und Mouse // 2 Ebenen der Netzkunst
Beispiele



Reinhard Döhl: Figurata, Emblem

Johannes Auer und mir geht es im Folgenden weniger um eine Hyperfiction-Lesung, was auch immer das ist, als vielmehr um eine Demonstration dessen, was uns persönlich an Netztext bzw. Netzkunst möglich scheint, überzeugt davon, daß ihre Entwicklung neben dem Text zunehmend das Bild mit einschließt. Die im Folgenden vorgetragenen Überlegungen und Beispiele sind dabei, wie viele unserer Stuttgarter Projekte, dialogisch auf dem Wege der e-mail diskutiert und vorformuliert worden und wollen diese dialogische Struktur auch nicht leugnen. Ein erstes Drittel unserer Ausführungen wird historisch-theoretischer Natur sein. Zunächst aber ganz konkret ein wenig Lyrik, gelesen mit der Maus.

Kill the Poem von Johannes Auer

Solche Hervorbringungen interessieren uns nicht nur im Umfeld der aktuellen Entwicklung vom Netztext zur Netzkunst, sondern zugleich im größeren historischen Zusammenhang eines Wechselspiel zwischen Schrift und Bild.

Kunst- bzw. kulturgeschichtlich wären die Wurzeln dieses Spiels bei den Technopaignia, den Figur(en)gedichten der griechischen Alexandriner und Bukoliker und in der Emblemdichtung des 16. und 17. Jahrhunderts, ihrer besonderen Text-Bild-Kombination zu suchen.

Das Figur(en)gedicht begegnet bereits sehr früh, im 3. Jahrhundert vor der Zeitwende. Eines der bekanntesten Beispiele ist die Syrinx des Idyllendichters Theokritos,deren rätselhafter Text über das Erkennen des Bildes hinaus vom Leser zusätzlich enträtselt werden will, was aber heute mein Thema nicht ist.

In der Renaissance beginnt man, sich wieder dieser Figurentexte zu erinnern, greifen Scaligers "Poetices libri septem" das Genre poetologisch auf. Im 17. Jahrhundert erlebt das Figur(en)gedicht eine Blütezeit auch in der deutschsprachigenen Literatur,

Kornfeld: Eine Sand-Uhr

um dann bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder in Vergessenheit zu geraten.

Im 20. Jahrhundert, zuerst vereinzelt (Christian Morgensterns "Trichter"), dann mit den "Calligrammes" Guilleaume Apollinaires auf breiterer Basis einsetzend, findet das Figur(en)gedicht schließlich in der visuellen Poesie eine eigene Ausprägung, weltweite Verbreitung, Übersetzung und diesmal auch Popularisierung bis ins Schullesebuch:

Apfel

Decken sich in diesen Beispielen - zustimmend oder auch im Widerspruch - Text und Bild, ist bei ihnen der Text das Bild, das Bild der Text, stehen beim Emblem des 16./17. Jahrhunderts Text und Bild in Korrespondenz: einer Überschrift (Lemma, Inscriptio) folgt das illustrierende Bild (Pictura), das durch eine Unterschrift (Subscriptio), oft in Gedichtform, ausgedeutet wird:

Insignia Poetarum / Der Poeten Wappen

[aus: Andreas Alciatus: Emblematum Libellus (Paris 1542)]. Auch diese Text und Bild verbindende Literaturgattung ist in der Folgezeit allenfalls noch in Spuren, so in emblematischer Bildlichkeit, aufspürbar, um etwa gleichzeitig mit dem Figur(en)gedicht im 20. Jahrhundert wieder aufgegriffen zu werden, am radikalsten und zugleich reduziertesten in Kurt Schwitters' "i-Gedicht".


Johannes Auer: Text im Bild // Marcel Duchamp

1915 geht in New York ein Mann in ein Eisenwarengeschäft an der Columbus Avenue, kauft eine Schneeschaufel trägt sie nach Hause und schreibt auf den Schieber: "In advance of the broken arm" (in Vorwegnahme des gebrochenen Arms), signiert sie und schaufelt damit der Kunst des 20. Jahrhunderts entscheidend neue Bahnen. Der Schaufelkäufer war Marcel Duchamp, und sein signiertes Objekt gilt vielen als sein erstes richtiges Ready-made, ein Kunstwerk, bei dem eine industrielles Fertigprodukt qua Betitelung und Signatur zum Kunstwerk erhoben wird.

Zweierlei scheint mir daran von besondere Bedeutung. Einerseits der Schöpfungsakt, der die Kunstproduktion vom handwerklichen löst und ganz in die deklarative Willkür des Künstlers legt, andererseits die Bedeutung des Werktitels, der erst das Kunstobjekt miterschafft.

"Wie kann man Werke schaffen, die keine 'Kunst'-Werke sind", notierte Duchamp als Frage 1913 auf einen Zettel und beantwortete diese u.a. mit der Erfindung des (der) Ready-made(s). In einem Brief an Hans Richter schrieb er: "als ich die Ready-mades entdeckte meinte ich jedwede Ästhetik zu entmutigen".

Zentral für Duchamps Werk ist die Ablehnung dessen, was er das rein "Retinale" nannte, also eine Kunst, die den ästhetischen Reiz nur an der Oberfläche, im komponierten Bild, im optischen Spiel sucht. Wenn Duchamp sich gegen das bloß Retinale ausspricht, zielt er auf Kunstwerke, die mehr sind als ihre äußere Gestalt, auf Werke, die auf eine Idee, ein Konzept verweisen.

Werke, die keine Kunstwerke sind und konzeptuell begründet, auf diese Formel lassen sich Duchamps Arbeiten vielleicht verkürzen.

Und von besonderem Interesse ist dabei der Bildtitel. Schon vor den Ready-mades hat Marcel Duchamp dem Bildtitel eine wichtige, mitgestaltende Aufgabe zuerkannt:

"(Ich) habe dem Titel immer eine bedeutende Rolle beigemessen, und ich fügte ihn am Schluss hinzu und behandelte ihn wie eine unsichtbare Farbe". Das heißt, erst der Bildtitel, die unsichtbare Farbe, vollendet das Gemälde. Wenig später geht Duchamp sogar dazu über, den Titel direkt und prominent auf das Bild zu schreiben, zum Beispiel in seinem kubistischen Werk "Akt eine Treppe herabsteigend", und verursachte einen grandiosen Aufruhr in der "Armory"-Ausstellung 1913 in den USA. Duchamp selbst erkannte das Provokative daran. Calvin Tomkins führt in seiner klugen und materialreichen Duchamp-Biographie an, dass Duchamp immer behauptet habe, dass die Reaktionen auf seinen Akt in erster Linie mit dem Titel zu tun gehabt hätten. Tomkins: "Akte kamen in der Kunst nun einmal nicht die Treppe herunter, und man schrieb bei Gemälden nun einmal nicht den Titel auf die Leinwand". (Tomkins, S. 66)

Dabei sind Duchamps Titel durchaus literarisch. Duchamp hat sich zeitlebens und nicht nur bei Wortspielen als Autor betätigt. Es sind von ihm erfundene Titel, also nicht irgendwelche Themen der klassischen Ikonographie oder deskriptive Beschreibungen. Auch sah Duchamp als wichtige Inspirationsquelle die Literatur: "Ich hatte das Gefühl, dass es für einen Maler sehr viel besser war, sich von einem Schriftsteller beeinflussen zu lassen als von einem anderen Maler". (Zit. nach Tomkins, S.112)

Interessant vielleicht eine Widersprüchlichkeit bei den Ready-mades. Während Duchamp die Kunstproduktion auf die Auswahl eines fertigen Gebrauchsgegenstandes reduziert, das Objekt also allein durch die Auswahl des Künstlers zum Kunstwerk macht, bleibt er bei der Titelerfindung, die ja komplementär erst das Werk mitvollendet, traditionell schöpferisch. Er erfindet den Titel: "In advance of a broken arm". Anders ausgedrückt, der Objektauswahl beim Ready-made müßte eigentlich konsequent eine entsprechende Titelauswahl folgen, also beispielsweise das Durchblättern einer Zeitung und die Festlegung einer Headline als passenden Titel für das Ready-made. Bei Texten und Titeln bleibt Duchamp jedoch immer wortverliebt.

Ich fasse zusammen. Duchamp versucht Werke zu schaffen, die keine Kunstwerke mehr sind. Dabei spielen Objekt oder Bild und Titel eng zusammen, schaffen gemeinsam das Kunstprodukt. Allerdings nicht selbstgenügsam. Duchamp lehnt ja gerade das rein Retinale ab, also Kunstwerke, die sich formal und ästhetisch selbst genügen. Wie beim Emblem, auf das Reinhard Döhl gerade eingegangen ist, soll auch bei Duchamp Wort und Bild über sich hinausweisen, nicht mehr wie im Emblem auf eine Auslegung, sondern auf eine Idee, auf ein künstlerisches Konzept.


Reinhard Döhl: verwischte Kunstgrenzen // Kurt Schwitters

Auch die Rolle und Bedeutung Kurt Schwitters' für die Kunst des 20. Jahrhunderts wird erst allmählich erkannt. Das gilt für seine Ansätze akustischer, konkreter und visueller Literatur, die Entdeckung der Banalität, des Fundstücks wie die Vermischung der Kunstarten. Ich möchte dies durch Zitate wenigstens andeuten.

"Nicht nur der Farbe und der Leinwand, des Pinsels, der Palette, sondern aller vom Auge wahrnehmbarer Materialien und aller erforderlicher Werkzeuge" bediene sich seine MERZ-Malerei, hielt Kurt Schwitters z.B. fest, um fortzufahren, daß es dabei "unwesentlich" sei, "ob die verwendeten Materialien schon für irgendwelchen Zweck geformt waren oder nicht". Der Künstler schaffe "durch Wahl, Verteilung und Entformelung der Materialien" und erstrebe dabei "unmittelbaren Ausdruck durch die Verkürzung des Weges von der Intuition bis zur Sichtbarmachung des Kunstwerkes".

Zur Vermischung der Kunstarten schrieb er: "Die Beschäftigung mit verschiedenen Kunstarten war mir ein künstlerisches Bedürfnis. Der Grund dafür war nicht etwa Trieb nach Erweiterung des Gebietes meiner Tätigkeit, sondern das Streben, nicht Spezialist einer Kunstart, sondern Künstler zu sein. Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit. Zunächst habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt. Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen. Ich habe Bilder so genagelt, daß neben der malerischen Bildwirkung eine plastische Reliefwirkung entsteht. Dieses geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen."

Die literarischen Konsequenzen, die Kurt Schwitters für sich gezogen hat, markieren - vor dem Hintergrund seiner MERZ-Malerei und der "verwischten" Kunstgrenzen - das "Gesetzte Bildgedicht" (1922) auf der einen und auf der anderen Seite die seit 1923 wiederholt in Auszügen, 1932 vollständig veröffentlichte "Ursonate". Zwischen beidem ordnen sich als Vorstufen, aber auch als Sonderaspekte die "elementar"-Texte und das auf die pure Materialität des Buchstabens zurückgeführte "i-Gedicht" (1922).

Dieses Gedicht stellt - wie bereits angedeutet - in seiner Reduktion die radikalste und zugleich banalste Form eines Emblems vor, dessen Elemente dennoch vollständig gegeben sind: in der Überschrift ("Das i-Gedicht"), der Pictura (einem aus dem Setzkasten zusammengesetzten i) und der Subscriptio (in Form des Merkverses: "lies: 'rauf, runter, rauf, Pünktchen drauf'").

Kurt Schwitters hat nicht sehr viele selbst oder von anderen "gefundene" "i-Gedichte" veröffentlicht, sie aber 1923 theoretisch als sprachliche Fundstücke (und den bekannteren Ready-mades Marcel Duchamps durchaus vergleichbar) verteidigt:
"Ich habe diesen Buchstaben [i] zur Bezeichnung einer spezialen Gattung von Kunstwerken gewählt, deren Gestaltung so einfach zu sein scheint, wie der einfältigste Buchstabe i. Diese Kunstwerke sind insofern konsequent, als sie im Künstler im Augenblick der künstlerischen Intuition entstehen. Intuition und Schöpfung des Kunstwerkes sind hier dasselbe. - Der Künstler erkennt, daß in der ihn umgebenden Welt von Erscheinungsformen irgendeine Einzelheit nur begrenzt und aus ihrem Zusammenhang gerissen zu werden braucht, damit ein Kunstwerk entsteht, d. h. ein Rhythmus, der auch von anderen künstlerisch denkenden Menschen als Kunstwerk empfunden werden kann. [...] - Die einzige Tat des Künstlers bei i ist Entformelung durch Begrenzung eines Rhythmus. [...] Wer nun denkt, daß es leicht wäre, ein i zu schaffen, der irrt sich. Es ist viel schwerer als ein Werk durch Wertung der Teile zu gestalten, denn die Welt der Erscheinungen wehrt sich dagegen, Kunst zu sein, und selten findet man, wo man nur zuzugreifen braucht, um ein Kunstwerk zu erhalten."



Johannes Auer: Suppendosen Konzepte // Andy Warhol

Was fällt ihnen ein wenn sie an Suppe denken? Die '5 Minuten-Terrine', Maggi, Unox, 'unvergleichlich gut' und Knoten in Suppenlöffeln? Gut ich frage präziser: Was fällt Ihnen ein wenn sie an Tomatensuppe und gleichzeitig nicht an Maggi, Unox, und 'unvergleichlich gut' denken?

Ich bin sicher: ganz spontan sehen sie vor ihrem inneren Auge große Leinwandmalereien, auf denen die "Campbells Tomato Soup" prangt.

Und doch war der erste gedankliche Umweg über die Minuten-Terrinen Werbung für das Folgende nicht uninteressant. Der Kunsthistoriker Beat Wyss schreibt in seinem Buch "Die Welt als T-Shirt":

"Spätestens seit Andy Warhol (und Andy Warhol ist ja genau der Maler der 'Campbells Tomato Soup') spätestens seit Andy Warhol, also, ist klar, dass zwischen Kunst und Werbung kein Unterschied besteht", "Amerikanische Pop-Art ist Affirmation an die Welt der Werbung und des Konsums, ohne Hintertreppen der Subversion (...) Kunst ist ebenso angewandt, wie Werbung frei ist". (WaT, S. 117)

Ohne Wyss Aussage weiter diskutieren zu wollen, möchte ich hinzufügen: eben auch aus dem Grund, dass in der Werbung, wie in der Pop Art, Text und Bild eine selbstverständliche Koexistenz eingehen, und ich erinnere hier stellvertretend an Warhols "Brillo"-Waschmittel- Bilder, wie an Lichtensteins Comic-Adaptionen.

Warhol und die amerikanische Pop-art gelten als Neo-Dada und in ihrer Feier des industriellen Fertigproduktes als direkte Nachfahren von Marcel Duchamp und seinen Ready-mades.

Duchamps Haltung zur Pop-art, zum Neo-Dada war hingegen durchaus ambivalent. Was Duchamp schal aufstieß, war die kritiklose Hingabe an die Schönheit der Gebrauchsgegenstände:

"Als ich die Ready-mades entdeckte, vermeinte ich jedwede Ästhetik zu entmutigen. Beim Neo-Dada haben sie meine Ready-mades genommen und in ihnen eine ästhetische Schönheit entdeckt. Ich warf ihnen den Flaschentrockner und das Urinal ins Gesicht, und nun bewunderten sie sie um ihrer ästhetischen Schönheit".

Kurz: Duchamp lehnte die Popartisten wegen ihres rein retinalen, also kritiklosenen Ästhetizimus ab. Auch das Wort, bei Duchamp wichtiges sinnstiftendes Moment seines Kunstkonzeptes, ist bei einem Warhol oder Lichtenstein zum bloßen Dekorum, zum semantisch Bedeutungslosen, rein optischen Reiz geworden. Ob Brillo oder Campbell zu lesen ist, ist nicht inhaltlich wichtig sondern abgemaltes Attribut der Vorlage.

Und doch gesteht gerade Duchamp Warhol auch ein konzeptuelles Moment zu.

Im Hinblick auf die Suppendosenbilder sagt er, sie seien nicht so sehr von retinalem als von konzeptuellen Interesse:

"Wenn man eine Campbell-Suppendose nimmt und sie 50mal wiederholt, interessiert man sich nicht für das retinale Bild. Was einen interessiert, ist das Konzept, das einen veranlaßt, 50 Campbell-Suppendosen auf die Leinwand zu bringen".

Mit dieser Äußerung verweist Duchamp auf ein höchst spannendes Textverständnis. Text jetzt in seinem ursprünglichen Sinn als "Gewebe, Geflecht" verstanden. Wenn Warhol 50 Suppendosen malt, oder seine Monroe-Reihe, die nur in den Farben variiert, so entsteht genau in der Serie, im Zusammenklang des Ähnlichen ein Geflecht, die Maschen eines Wahrnehmungs-Gewebes oder anders ausgedrückt: es entsteht ein Text.


Reinhard Döhl: Die Stuttgarter Gruppe

In den 50er Jahren, also etwa gleichzeitig mit den Anfängen der Pop-Art gruppierte sich in Stuttgart um Max Bense und seine Zeitschrift "augenblick", seit 1960 die Publikationsfolge "rot" und die "Studiengalerie" der damals noch Technischen Hochschule, eine Gruppe junger Wissenschaftler und Künstler, die ihr Interesse, dem damaligen literarischen und wissenschaftlichen Konsenz zum Possen, auf kritische Sprachphilophie und Semiotik, auf exakte Aesthetik, Informations- und Texttheorie, und in den Künsten auf die Kulturrevolution zu Beginn des Jahrhunderts richteten.

Will man die künstlerischen Arbeiten der Stuttgarter Gruppe, die mich im Folgenden ausschließlich interessieren, bis Ende der 60er Jahre in ihren wichtigsten Punkten zusammenfassen, wäre hervorzuheben:  

Ihr praktisches wie theoretisches Interesse an experimenteller Literatur und Kunst, speziell an einer konkreten Poesie in ihren visuellen und akustischen Spielformen des permutationellen, visuellen, aleatorischen und akustischen Textes (vgl. die zahlreichen akustischen Spiele und Partituren).

hat sich die Stuttgarter Gruppe / Schule um Max Bense sehr früh bereits - im Rahmen ihres Interesses an experimenteller Literatur - für das Produzieren und eine Theorie stochastischer Texte und Computergrafik interessiert, wobei uns die von Swift beschriebene Maschine der Akademie von Lagado ebenso wie die Bilder-Maschinen bzw. die Maschinen-Poesie des Manierismus als historische Vorläufer durchaus geläufig waren.

Anders ausgedrückt: ein Charakteristikum der in soziologischen Verständnis offenen Stuttgarter Gruppe/Schule war sehr früh bereits ihr Interesse an einer Verbindung von künstlerischer Produktion mit neuen Medien und Aufschreibsystemen.

Bereits im Oktober/Dezemberheft 1959 des "augenblick" veröffentlichte der Mathematiker Theo Lutz einen Aufsatz über mit Hilfe der Großrechenanlage ZUSE Z 22 im Rechenzentrum der TH Stuttgart ausgegebene "Stochastische Texte", in dem er referierte, daß die "ursprünglich [...] für die Bedürfnisse der praktischen Mathematik und der rechnenden Technik entwickelten programmgesteuerten, elektronischen Rechenanlagen" eine "Vielfalt der Anwendungsmöglichkeiten" böten. Für die Benutzer derartiger Rechenanlagen sei "nicht entscheidend, was die Maschine" tue, "wichtig [...] allein sei, wie man die Funktion der Maschine" interpretiere.

Die Stuttgarter Gruppe/Schule "interpretierte" wissenschaftlich, indem sie mit Hilfe elektronischer Rechenanlagen Häufigkeitswörterbücher erstellte und für exakte statistische und ästhetische Textanalysen nutzte. Sie "interpretierte" aber auch literarisch, indem sie das Verfahren der Herstellung von Wortindices praktisch umkehrte und den Computer anwies, "mit Hilfe eines eingegebenen Lexikons und einer Anzahl von syntaktischen Regeln Texte zu synthetisieren und auszugeben". Ich darf die wichtigsten Ereignisse der folgenden 10 Jahre stichwortartig zusammenfassen:

Das erste Programm von 1959, das aus circa 200 Befehlen bestand, brachte aus heutiger Sicht zwar noch kein aufregendes Ergebnis, hatte aber für uns den Wert einer Inkunabel künstlicher Poesie, die Max Bense kurze Zeit später auch theoretisch von der natürlichen Poesie unterschied.

1960 hält Piere Barbaud im Studium Generale der TH Stuttgart einen Vortrag "Der künstliche Komponist".

1961 berichtet Max Bense einem Vortrag auf den "Morsbroicher Kunsttagen" über die Stuttgarter Schreibexperimente und löst heftige Reaktionen aus.

1962 erscheint in der Reihe "rot" Abraham A. Moles' "Erstes Manifest der permutationellen Kunst".

1963 werden unabhängig voneinander in Stuttgart und Erlangen die ersten Grafiken von digitalen elektronischen Rechenanlagen mit Hilfe eines Zeichengerätes hergestellt.

Derart computergenerierte Grafik wird erstmals am 4. Februar 1965 in einer in ihrem Verlauf äußerst turbulenten Ausstellung in der Studiengalerie der TH Stuttgart von Max Bense eröffnet, der 1968 auch die Anregung zu der von Jasia Reichardt  im "Institute of Contemporary Arts" in London erarbeiteten Ausstellung "Cybernetic Serendipity" gibt, nachdem dort bereits 1965 eine für den Grenzbereich Literatur/Bildende Kunst ähnlich wichtige Ausstellung, "Between Poetry and Painting", ebenfalls mit Stuttgarter Assistenz, gezeigt wurde.

Eine von der Stuttgarter Edition und Galerie Hansjörg Mayer und der Siebdruckerei Domberger edierte Mappe "16 4 66" enthält neben Computergrafiken Frieder Nakes auch mit Lichtsatz montierte "Coldtypestructures" und Gedichte von Klaus Burkhardt und mir, die heute jeder leicht auf seinem PC herstellen könnte.
1969 erscheinen die "poem structures in the looking glass" von Klaus Burkhardt und mir vollständig in der Reihe "rot".

1970 sendet der WDR meinen Radio-Essay "Sprache und Elektronik. Über neue technische Möglichkeiten, Literatur zu erstellen und rezipieren".

1970/1971 wird in großen Ausstellungen in Zürich und Amsterdam das Etikett "konkrete Poesie" bereits in Frage gestellt, ist nurmehr von Text, Buchstabe, Bild bzw. akustischen und visuellen Texten die Rede. Beide Ausstellungen sind unter Stuttgarter Beteiligung aufgebaut, die Zürcher Ausstellung ausschließlich von Felix Andreas Baumann und mir konzipiert und realisiert worden.

1972 verbindet die Stuttgarter Staatsgalerie in der Wanderausstellung "Grenzgebiete der bildenden Kunst" "Bild Text / Text Bilder", "Computerkunst" und "Musikalische Graphik".

Als sich 1994 auf dem Stuttgarter "Symposium Max Bense" Wissenschaftler und Künstler trafen, ging es retrospektiv um diese Entwicklung, aber auch um die internationalen Wechselbeziehungen der "Stuttgarter Gruppe / Schule". Kurze Zeit später beginnen Johannes Auer und ich, in der Tradition früherer Stuttgarter Experimente (Computertext und -grafik; konkrete und visuelle Poesie), die reproduktiven und produktiven Möglichkeiten des Internets zu diskutieren, indem wir einzelne Texte dieser Art zu den Spielregeln, d.h. technischen Bedingungen des Internets eingaben,

wobei erstens für uns nahe lag, vom Gedanken der poetischen Korrespondenz, der poetischen Vernetzungen auszugehen,

wobei uns zweitens der bewußte Verzicht auf technisches Überziehen vorrangig war zu Gunsten präziser experimenteller Reflexion der grundlegenden Möglichkeiten von Computer, Netz und Literatur.


Johannes Auer: Screen und Mouse - 2 Ebenen der Netzkunst

Am 13. Januar 1997 wurde eine Nachricht im Internet verbreitet:

if you want me clean your screen, scroll up and down

Darunter war eine Internetadresse angegeben und der Namen der Künstlerin Olia Lialina.
Ruft man die angegebene Internetadresse auf, erscheint diese Hand auf dem Bildschirm [http://www.entropy8zuper.org/possession/olialia/olialia.htm], und durch die Bewegung über die Scrollbalken erscheint es tatsächlich so, als ob eine Hand den Bildschirm von innen reinigt.

Natürlich ist an dieser Arbeit der russischen Netzkünstlerin Olia Lialina wichtig, wie sie sich per E-Mail ankündigt, natürlich ist wichtig, dass hier der Mouse-Click auf die angegebene Adresse, dass der Click, der die Arbeit aufruft, vor der visuellen Sensation liegt und auch die einzige Clickmöglichkeit bleibt.

Darauf will jetzt aber nicht eingehen, ebenso wenig wie darauf, dass bei der Netzkunst neben dem Optischen, also dem, was wir als ästhetisches Produkt auf dem Bildschirm zu sehen bekommen und auf was ich mich heute beschränken will, immer zwei weitere Ebenen, eine technische (Programmierung) und eine soziale (Interaktion der Nutzer) hinzukommen. Diese wichtige und scharfsinnige Erkenntnis stammt von dem Konstanzer Literaturwissenschaftler und Netzanthopologen Reinhold Grether, der die 3 Ebenen als Desk, Tech, Soz unterschieden hat.

Was ich heute hervorheben will, ist, und das macht Olia Lialinas Hand besonders deutlich, dass bei [Personal]Computer-Kunst 2 Ebenen zusammenwirken: die visuelle Fläche auf dem Bildschirm und die Fläche auf der ich die Mouse bewege, um mit der visuellen Ebene zu interagieren. Ein weiteres Beispiel

"Kill that Cat" von Mouchette [www.mouchette.org/cat]

Hier muß man mit der Mouse den auf und ab zitternden Button treffen, eine nicht einfache motorische Koordinationsaufgabe zwischen Hand und Auge. Gelingt der Click, wird man belohnt durch die Frage: Why did you kill my Cat? Und soll per weiterem Click auf einen Button versprechen, das nie wieder zu tun (Never do it again!)

Normalerweise wird als wichtigste Interaktionsmöglichkeit der Mouse-Ebene mit der Bildschirmfläche der Link angesehen, den Olia Lialia interessanterweise vor ihr Kunstwerk legt.

Ein Link oder Hyperlink ist ein Wort oder ein Bild in einem sogenannten Hypertext, durch den ich per Click mit der Mouse auf dem Bildschirm eine neue Information angezeigt bekomme. Der Hypertext ist die Grundlage des WorldWideWebs, kurz gesagt einer Methode, sich per Hyperlink im Internet zu bewegen.

Und der Hyperlink hat am Anfang die Literatur und Kunst im Internet inspiriert (und fast noch mehr die theoretischen Betrachtungen darüber).

Der Hyperlink schien endlich den Leser oder Betrachter des Kunstwerkes zum Mitautor und Mitschöpfer zu machen. Stellen sie sich eine schöne Textseite auf dem Computerbildschirm vor, auf der einige Wörter farbig markiert sind. Wenn sie auf die Wörter mit der Mouse clicken, bekommen sie eine neue Seite angezeigt. Und da es mehrere farbig markierte Wörter sind, haben sie die Qual der Wahl, oder anders ausgedrückt: ihre und nur ihre Wahl entscheidet, wie ihre Lektüre weitergeht, wie sich der Text zusammenkomponiert, und damit sind sie zum Mitautor geworden.

Michael Böhler sieht außerdem im notwendigen Zusammenwirken der beiden Ebenen, Mouse und Screen, eine neue Lektüreweise, eine Verlagerung der mitgestaltenden Phantasie in die Mouse-Aktionsebene - kurz eine " Externalisierung des Imaginären".

"Ästhetisch betrachtet ist Hyperfiction weniger eine neue literarische Textform als eine neue Lektüreweise und ein neues Text-Leser-Verhältnis. Darin wird der Ort des literarischen "Theaters" aus dem Gehirn-Innenraum mentaler Prozesse in den äussern Interaktionsraum sensorieller Wahrnehmungs- und haptischer Selektionshandlungen verlagert."
[http://iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/netzkun.htm#Boehler]

In letzter Zeit ist jedoch die "der Link ist alles"-Euphorie abgeklungen, und seine Bedeutung wird kritisch hinterfragt. Einige Argumente will ich kurz aufführen.

Bernd Wingert konstatiert eine mögliche Aufmerksamkeitsverschiebung bei der Hypertext-Lektüre vom Text zum Sprung, die er zurecht als die "zentrifugalen Kräfte" bei der Hypertext-Lektüre charakterisiert. D.h. den Leser interessiert mehr, wohin die Links hinführen, als das, was er gerade auf dem Bildschirm sieht. Man könnte mit einigem Recht sozusagen von einer hypertextuellen Zapmentalität sprechen.
[ Bernd Wingert: "Kann man Hypertexte lesen?" In: Literatur im Informationszeitalter,
hrsg. von Dirk Matejovski und Friedrich Kittler, Frankfurt/Main u.a. 1996, S. 202
]

Noch gewichtiger ist allerdings ein Einwand von Uwe Wirth, der sagt: dass in dem Maße, in dem Hypertexte auf eine Struktur, bzw. auf eine interne Kohärenz verzichten, die von einem Autor/Autorenkollektiv vorbedacht ist, um sich ganz den clicklustigen Entscheidungen des Lesers zu öffnen, dass also ohne eine solche vorbedachte Struktur der Text letztlich beliebig, inhalts- und sinnlos wird. D.h. in einem fiktionalen Text muß die Entscheidungsmöglichkeit des Lesers immer durch Regisseure oder Autoren beschränkt werden.
[http://www.rz.uni-frankfurt.de/~wirth/texte/litim.htm]

Auch gibt es eine andauernde Diskussion und zahlreiche Vermutungen, wieviel Text man überhaupt bereit ist am Bildschirm zu lesen. Ich will mich in diese Debatte nicht einmischen, nur vielleicht soviel: auch ich glaube, dass am Bildschirm nicht allzuviel gelesen sein will. Das hängt vielleicht mit der Artverwandstschaft des Computerbildschirms zusammen. So ist sein natürlicher Verwandter wohl eher der Fernseher denn das Buch.

Und so ist aktuell eine interessante Diskussion zu beobachten. Digitale Literatur wird gerade zunehmend in der Beziehung von Text und Bild diskutiert.

"Die nächste Generation digitaler Literatur wird in gleichem Masse vom Design der Bilder, Töne, Animationen wie von jener des Textes abhängen", sagt Marie-Laure Ryan.

[zitiert nach Daiber: http://www.dichtung-digital.de/Forum-Kassel-Okt-00/Daiber/index4.htm]

 

Und angesichts der multimedialen Möglichkeiten wird gleichzeitig gewarnt, dass Bild und Animation den Text erdrücken, dass die Lektüre zu einem Klickibuntispektakel (wie das jemand einmal formuliert hat) verkommen könnte.

Da wundert es nicht, dass der Germanist Jürgen Daiber kürzlich mahnend das Emblem für die digitale Literatur und Kunst revitalisiert.

Nach Daiber gilt gerade auch im digitalen Medium:

" Das Wort muss mehr sagen, als im Bilde zu sehen ist. Das Bild muss mehr zeigen, als sich durch das Wort erklären lässt."
[http://www.dichtung-digital.de/Forum-Kassel-Okt-00/Daiber/index5.htm]

Und so schließt sich der heutige Kreis.


Reinhard Döhl: Beispiele

Für das Weitere verweise ich auch auf eine im vorigen Jahr im Zürcher Update Verlag unter dem Titel "kill the poem" erschienene CD-Rom mit digitaler visuell-konkreter Poesie und Poem Art, auf der einige der folgenden Beispiele ebenfalls zu finden sind.

Ich sagte bereits, daß in Folge des Stuttgarter "Symposiums Max Bense" von 1994 Johannes Auer und ich begannen, in der Tradition früherer Stuttgarter Experimente (Computertexte und -grafik; konkrete und visuelle Poesie) die reproduktiven und produktiven Möglichkeiten des Internets zu diskutieren, indem wir einzelne Texte dieser Art zu den Spielregeln, d.h. technischen Bedingungen des Internets eingaben, wobei erstens für uns nahe lag, vom Gedanken der poetischen Korrespondenz, der poetischen Vernetzungen auszugehen, wobei uns zweitens der bewußte Verzicht auf technisches Überziehen vorrangig war zu Gunsten präziser experimenteller Reflexion der grundlegenden Möglichkeiten von Computer, Netz und Literatur.

Grundsätzlich unterschieden und unterscheiden wir zwischen Texten, die nicht für das Netz geschrieben aber für eine Realisierung im Netz geeignet sind, und Netztexten, also Texten, die mit Hilfe des Computers zu den Bedingungen des Internets erstellt werden.

Überzeugt davon, daß die experimentelle Literatur des 20. Jahrhunderts die ästhetischen Spielmöglichkeiten des Internets bereits antizipiert, haben wir zunächst einzelne Texte dieser Art zu den Spielregeln, d.h. technischen Bedingungen des Internets eingegeben. Dabei gingen und gehen wir aus vor allem von visuellen und akustischen Texten nicht nur der konkreten Poesie, wie sie bereits um 1920, insbesondere in den 50er und 60er Jahren praktisch und theoretisch auch in Stuttgart erprobt wurden. Diese lassen sich nach unserem Verständnis nicht nur im neuen Medium fortführen, sondern scheinen sogar - als Beispiel nenne ich die Permutation wie jede Art von Textaleatorik - für diese Möglichkeit der Realisierung geradezu prädestiniert, ob nun als reine Hypertextstruktur, als animiertes GIF, als Java-Applet oder -skript. Die Möglichkeiten sind hier bei weitem noch nicht ausgeschöpft.

Reinhard Döhl: Der Wald. Kein deutsches Requiem

Mein erstes Beispiel stammt aus "Albrechts Netz-Galerie" und will wie das Bild einer Ausstellung zunächst erst einmal beim Scrollen betrachtet und gelesen werden. Ausgangspunkt war ein Plakat, das nach dem großen Waldbruch 1999 forderte: "Verwenden Sie mehr deutsches Holz!" und das vier Personen zeigte, die je einen der Buchstaben W A L D in der Hand hatten. Ich habe, in Analogie zu einem konkreten "Wand"-Text von Kurt Schwitters, diese 4 Buchstaben und mit ihnen den Wald aus dem Plakat separiert, auf unterschiedliche Weise mit Hilfe des Computers bearbeitet und spielerisch als Emblem organisiert, kurz bevor Daiber mahnend das Emblem revitalisierte. Wenn dabei zwischen Incscriptio, Pictura und Subscriptio kleine Widersprüche (Sprünge) sichtbar/lesbar werden, sind diese beabsichtigt.

Reinhard Döhl: Tod eines Fauns

Als Beispiel eines permutationellen Textes könnte der "Tod eines Fauns" stehen, ein Text, der, ursprünglich als zweisprachiger Kommentar zu Pinselzeichnungen entstanden, mein umfangreiches "Mallarmé-Projekt" von 1989/1990 abschloß. Was der Druck, der nur eine lineare Version der Permution bieten kann, nicht leistet, ist im Netz möglich: ein variables Durchspielen der permutationellen Varianten.

Ohne konkreten Anlaß realisierte sich unter Stuttgarter Beteiligung Martina Kieningers "TanGo-Projekt". Von drei der Stuttgarter Beiträge ist in folgendem zu sprechen.

Johannes Auer: worm applepie

Seit über dreißig Jahren begleitet meinen "Apfel" ein Kurzschluß, der allenfalls den Wurm im Apfel sieht, dabei nicht einmal die Bedeutung der zuständigen Redewendung ("da ist der Wurm drin") reflektiert, geschweige denn gegenwärtig hat, daß Äpfel, Wurm und/oder Schlange in der Mythologie in der Regel Verhängnisvolles zur Folge zu haben pflegen: den Trojanischen Krieg z.B., die Vertreibung aus dem Paradies, so der Baum der Erkenntnis überhaupt ein Apfelbaum war, und anderes mehr. Wenn in Johannes Auers "Worm Applepie" der vollgefressene Wurm sich zu seiner ursprünglichen Größe zurückverdaut, karikiert er in der endlosen Wiederholung des Vorgangs auch diesen Kurzschluß. Denn daß er das andere auch und zustimmend gesehen hat, belegt seine einschlägige Postkarte (mail art), die einen Apfel abbildet mit der Zuschrift: "Drei Stunden später begann der dritte Weltkrieg".

Auer/Döhl: Pietistentango

Die Produktion des Pietistentango, wie das ganze "TanGo-Projekt" war von einer mailart-Aktion begleitet, die anläßlich der Projektvorstellung im Dezember 1998 im Goethe-Institut in Montevideo dokumentiert wurde. In meinem Fall enthielten die Karten an Johannes Auer alle möglichen sinnvollen Buchstabenkombinationen des Wortes "Pietisten": z.B. "ist, piste, pisten, stein, steine, niest, nest, pest, pein, pst, psi, sein, ein, nie, ei, niete" undsofort.

Diese Buchstabenkombinationen treten in der Realisation in 6 Spielfeldern, die den 6 Silben des Wortes "Pietistentango" entsprechen, zu wechselnden Konstellationen zusammen, und zwar in einem Rhythmus, der dem "Schritt, Schritt, Wiegeschritt" des Tango in etwa entspricht.

Gleichzeitig sind die 6 zwischen Schwarz und Weiß wechselnden Spielfelder besetzt mit den Wörtern "urbs" (2mal), "niger, umbra, umbrae" und "vitae", die von oben nach unten gelesen folgende Kombinationen ergeben:

Links "urbs niger", was natürlich Stuttgart meint und mit Nikodemus Frischlins bekannterem Stuttgart-Gedicht, genauer der Zeile "urbs jacet ad Nicri colles in valle reducta" (die Stadt liegt an den Ufern des Neckar in zurückgezogenem Tal) spielt.

Rechts zitiert "umbra vitae" (Schatten des Lebens) die nachgelassene, von Freunden zusammengestellte und dabei textlich manipulierte, düster gestimmte Gedichtsammlung Georg Heyms, mit der er posthum populär wurde.

Die in der Mitte plazierte "urbs umbrae" (Stadt der Schatten, vulgo Stuttgart) verbindet beides.

Wenn man so will, laufen beim Pietistentango also zwei Texte gegeneinander, die sich kommentieren, die sich aber auch, wenn man versucht, lediglich den Vorgang auf dem Bildschirm wirken zu lassen, unambitioniert als kinetische Kunst auffassen lassen.

Johannes Auer: Kill the Poem

Mit "Textspielen" haben wir in Stuttgart in den verschiedensten Formen experimentiert, mit Spielen, die sich reproduktiv spielen lassen, und solchen, die produktives Mitarbeiten der Benutzer verlangen, damit sie glücken. Bei Johannes Auers "Kill the Poem", geht es dabei um Text-Zerstörung und Infragestellung des Autors/Lesers.

Gegeben ist erstens ein permutationeller Text:

"keine faxen mit tango ist ernst kein tango ist ernst mit faxen keine faxen ist tango mit ernst mit tango ist ernst ohne faxen mit ernst sind faxen ohne tango mit tango ist faxen ohne ernst mit faxen ist ernst [...]".

Gegeben ist zweitens die Möglichkeit, mit martialischem Gestus schrittweise einzelne Wörter aus diesem Text herauszuschießen, zunächst "faxen", dann - ich fasse zwei Schritte zusammen - die Wörter "ohne" und "mit", dann - ich fasse wieder zwei Schritte zusammen - die Wörter "kein(e)" und "ist/sind", dann "ernst" und als letztes "tango", bis schließlich der ganze Text abgeschossen ist, mit der Möglichkeit freilich, ihn danach neu zu laden. Und wer will, mag sich hier im Vergleich durchaus an das von Johannes Auer bereits genannte "Kill that Cat" erinnern.

Was Johannes Auer dem bildschirmaktiven Leser allerdings anders als Mouchette und über das Spiel hinaus demonstrieren will, was der Leser bei seinem Tun erkennen soll, ist, wenn ich es recht verstehe, einmal die Demontage eines Artefakts und zugleich die Demonstration seiner Unzerstörbarkeit. Wir sind jedenfalls davon überzeugt, daß auch Kunst sterben darf und zugleich (in neuer, in anderer Form) wieder aufersteht, und fordern dies sogar als ihr Grundrecht.

Das führt mich zugleich zu meinem letzten Beispiel, zu der von Johannes Auer unter seinem Künstlernamen Frieder Rusmann im März dieses Jahres erstmals vorgestellten Installation "Für den natürlichen Tod des Kunstwerk".

Frieder Rusmann: Für den natürlichen Tod des Kunstwerk [www.kunsttot.de]

Diese Ausstellung/Installation war dreigeteilt in eine Manifestzone, eine Testzone und eine Protestzone.

Um von vornherein keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, Frieder Rusmann ist kein Ikonoklast. Installation und Netzprojekt zielen nicht, wie die Zerstörung der Buddha-Statuen durch die Taliban, auf gewaltsame Zerstörung von Kunst, sie fordern vielmehr auch für die Kunst das Recht auf einen natürlichen Tod ein und plädieren zugleich auf ein Neuverständnis dessen, was Kunst heute, was heute Kunst sein kann.

Frieder Rusmanns "Manifest für den natürlichen Tod des Kunstwerks" zieht eine Parallele zwischen künstlich beatmeter Leiche und Kunstwerken, die ihre Existenz nur noch der Kunst der Restauratoren verdanken, zwischen den Intensivstationen unserer Krankenhäuser und den "Restaurierungskammern der Museen", zwischen zwanghafter Restaurierung alter "Kunstwerke" und dem Face-Lifting heutiger Schönheitschirurgen. Und es behauptet eine Entsprechung zwischen dem Wunschtraum ewiger Jugend und der manischen "Reanimation und 'Wiederentdeckung' vergangener Kunstperioden".

Wie der Mensch das Recht auf einen natürlichen Tod hat, fordert Frieder Rusmann auch für die künstlerischen Hervorbringungen des Menschen den alters-, umwelt- und materialbedingten natürlichen Tod, nicht die Liquidierung der Kunst.

Ich muß, um das Anliegen Frieder Rusmanns deutlicher zu machen, ein wenig ausholen:

Im Streit der Bilderverehrer und Bilderstürmer seit dem 8./9. Jahrhundert, dem auch die pietistische Bilderfeindlichkeit zuzurechnen ist, löst am Ende des 18. Jahrhunderts das Primat der Ästhetik die immer weniger tragfähige religiöse Fundierung der Künste ab, betritt die bildende Kunst die gute Stube. Dabei führt das Bedürfnis, Kunst, die man sich nicht leisten kann oder die im Original nicht zugänglich ist, besitzen zu wollen, zunehmend zu ihrer Vervielfältigung und zur Ausbildung immer neuer Reproduktionstechniken, um im Verlaufe des 19. Jahrhunderts als reproduzierte Kunst schließlich vollends zur Dekoration zu verkommen. Die Venus von Milo, die Nike von Samothrake mutieren zu Nippesfiguren, die Mona Lisa zum farbigen Kunstdruck bzw. Poster.

Gegen diese bürgerliche und spätbürgerliche ausschließlich affirmative Rezeption von Kunst wenden sich zu Beginn des vorigen Jahrhunderts dann entschieden Futuristen und Dadaisten.

Ich zitiere, zunächst aus "Fondazione e Manifesto del Futurismo" (Gründung und Manifest des Futurismus) (11.2.1909)

"Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen... ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake."

"Museen: Friedhöfe! [...] Museen: öffentlich Schlafsäle [...] Museen: absurde Schlachthöfe der Maler und Bildhauer [...] Einmal im Jahr mögt ihr dahin pilgern, wie man zu Allerseelen auf den Friedhof geht... das gestatte ich euch. Einmal im Jahr mögt ihr einen Blumenstrauß vor der Mona Lisa niederlegen... das gestatte ich euch [...]"

Kurze Zeit später reklamiert Hans Arp in einem "Dadaspruch" für die Dadaisten als Leistung, die Venus von Milo klistiert, Laokoon endlich das Austreten erlaubt zu haben, und er schließt: "Der Dadaismus hat das Bejahen und Verneinen bis zum Nonsense geführt. Um Überheblichkeit und Anmaßung zu vernichten, war er destruktiv."

Bezeichnender Weise lautet dieser letzte Satz in seiner ersten Fassung: "Um die Indifferenz zu erreichen, war er destruktiv." Das bringt ein letztes Mal Marcel Duchamp ins Spiel, der seine "Ironie" als "Ironie der Indifferenz", als "Meta-Ironie" erklärt und begriffen hatte. Duchamp hätte genauso gut Unsinn sagen können, denn die Gleichgültigkeit gegenüber Kunst/Nichtkunst, Geschmack/Geschmacklosigkeit, schön/ häßlich hebt den Sinn auf, stellt tradierte ästhetische Ordnung in Frage. Weniger auf Nike und Venus, auf Laokoon und Mona zielten also die Futuristen und Dadaisten, zielt Frieder Rusmann in seiner Installation mit gleichzeitigem Netzprojekt, sondern auf plakatives Kunstverständnis, Nippesfigur und Kunstdruck.

Mona Lisa

Konsequenterweise beginnt der Mona-Lisa-Test in Frieder Rusmanns Netzprojekt den auch mit einer Reproduktion der Reproduktion der von Duchamp als Vorlage benutzten Reproduktion.

Im weiteren Durchspielen stellt sich Mona Lisa dann barbusig dar mit der Zuschrift

mir ist kalt
ich werde alt,

was als Anspielung auf Duchamps "L.H.O.O.Q" (sie hat es warm unterm Hintern) eigentlich nicht zu überlesen ist, jene obszöne Buchstabenfolge, die er einem Kunstdruck der Mona Lisa einschrieb. Klickt man jetzt die Frage "Aufwärmen" an und bestätigt die Gegenfrage "wirklich", bekommt man wieder die Reproduktion der von Duchamp benutzten Reproduktion.

Wobei ich im Vorbeigehen wenigstens darauf hinweisen möchte, daß bei der grundsätzlich möglichen Manipulierbarkeit einer Bildvorlage mit Hilfe des Computers auch die Originalitätsfrage grundsätzlich neu zu stellen und zu diskutieren wäre. Denn nicht nur der traditionell manipulierende Künstler, auch der am Computer arbeitende Künstler macht "aus Etwas etwas Anderes", um hier eine Definition André Thomkins aus den 60er Jahren in Erinnerung zu bringen.

Nike von Samothrake

In der "Testzone" des Netzprojekts "Kunsttod" gilt ein 6. Test dann der Nike von Samothrake, die mit deutlicher Anspielung auf Marinettis Manifest zunächst von einem Auto überfahren wird, das wiederum und aktuell von einem Turnschuh platt gewalzt wird, der so den Bogen spannt zu einem Sportschuhhersteller.

Ich will Ihnen und mir den Spaß an eigenen Entdeckungen in der "Testzone", wie insgesamt im "Netzprojekt" Frieder Rusmanns nicht durch weitere Erklärungen verderben und schließe deshalb mit einem mir persönlich sehr anliegenden Hinweis auf den dritten, die Dresdner Frauenkirche betreffenden Test.

© Johannes Auer | Reinhard Döhl 05/2001

 

 

Links zur Hyperfiction//Netzliteratur

Theorie Hyperfiction - Liste mit deutschsprachigen Essays zum Thema Hyperfiction - Johannes Auer

Hyperfiction//Netzliteratur - Sammlung der wichtigsten deutschsprachigen Projekte - Johannes Auer

Kommentierte Links zu Hypertext und Hyperfiction - Johannes Auer, Beat Suter


Screaming Screen and Binary Idealism - Johannes Auer [9/2001]
Interview Johannes Auer von Christina Omlin (DRS Schweizer Radio) [Audio-File, 2001]
Stuttgarter Gruppe und Netzprojekte - Interview, dichtung-digital [2001]
Ansätze und Möglichkeiten künstlerischen Dialogs und dialogischer Kunst - Reinhard Döhl [Berliner Fass., 2001]
7 Thesen zur Netzliteratur - Johannes Auer [2000]
TanGo & Co. / Bericht über einige Stuttgarter InternetProjekte - Reinhard Döhl [2000]
Vom Computertext zur Netzkunst. Vom Bleisatz zum Hypertext - Reinhard Döhl [2000]
Der Leser als DJ - oder was Internetliteratur mit HipHop verbindet - Johannes Auer [1999]
Und Minchen nahm den Strickstrumpf wieder auf - Reinhard Döhl [1999]
Von der ZUSE Z 22 zum WWW - Reinhard Döhl [1997]
Lesen und Schreiben im Internet - Johannes Auer [1997]