Am 1. August 1997 berichtete der "Aktuelle Kulturspiegel" der "Stuttgarter Zeitung", John Updike schreibe "gemeinsam mit zahlreichen anderen Amerikanern einen Roman im Cyberspace. Nach einem Bericht der Zeitung 'USA Today'" habe "er die story unter dem Titel 'Murders Makes the Magazine'" eröffnet, "so daß sich die Leser täglich mit eigenen Anregungen, Sätzen oder Absätzen einschalten" könnten. "Jeder aufgenommene Beitrag werde mit 1000 Dollar honoriert. Der 65jährige Updike" wisse "noch nicht, wie die Geschichte am 11. September zu Ende gehen" werde. "Hauptfigur" sei "die Magazin-Angestellte Miss Tasso Polk, die der Hauptautor in seiner Einleitung" vorgestellt habe. "Veranstaltet" werde "das Ganze vom On-line-Buchladen Amazon.com." Für den Zeitungs- und Buchleser vielleicht neu, ist diese Nachricht für den Internetbenutzer keine Überraschung, lediglich ein weiterer Beleg für Literatur im Internet / Literatur des Internets, für die im Medium längst Bibliographien zur Verfügung stehen, Statements abgegeben, Diskussionen, geführt,Aufsätze veröffentlicht und neuerdings sogar Seminare angeboten werden.
Die technischen Bedingungen, Rechner und PC, weisen dabei auf eine Tradition, die zurückreicht bis zu frühen Textexperimenten mit Hilfe von Großrechenanlagen, ja darüber hinaus in die Geschichte aleatorischer Kunst. Nicht ohne Ironie, wenn man den Namen einer der größten Suchmaschinen, "Yahoo", als Anspielung auf Jonathan Swifts "Travels into Several Remote Nations of the World" erkennt, direkt auf die menschenähnlichen Diener der Houyhnhnms im 4. Buch, indirekt aber auch auf jene textherstellende Maschine von Laputa, in der man eine spielerisch ironische Vorwegnahme des textverarbeitenden Computers sehen darf. Und in noch eine dritte Tradition ist das Cyberspace-Unternehmen Updikes einzuordnen, die Tendenz nämlich der Künste im 20. Jahrhunderts zum Dialog.
Wenn ich mich im folgenden vor allem auf Stuttgart konzentriere, geschieht dies 1., weil für die Stuttgarter Gruppe / Schule um Max Bense sehr früh bereits - im Rahmen ihres Interesses an experimenteller Literatur - das Produzieren und eine Theorie stochastischer Texte und Computergrafik eine Rolle gespielt haben, 2., weil wir in Stuttgart seit einiger Zeit auch mit offenen Internet-Projekten experimentieren.
Ein Charakteristikum der Stuttgarter Gruppe/Schule war sehr früh bereits ihr Interesse an einer Verbindung von künstlerischer Produktion mit neuen Medien und Aufschreibsystemen. Im Oktober/Dezemberheft 1959 der "Zeitschrift für Tendenz und Experiment", "augenblick", einem Heft, das nicht zuletzt wegen der dort publizierten "Vier Texte" Helmut Heißenbüttels für die experimentelle Poesie derTschechoslowakei (aber auch Brasiliens) besonders wichtig wurde, veröffentlichte Theo Lutz einen Aufsatz über mit Hilfe der Großrechenanlage ZUSE Z 22 geschriebene "Stochastische Texte", in dem er referierte, daß die "ursprünglich [...] für die Bedürfnisse der praktischen Mathematik und der rechnenden Technik" entwickelten "programmgesteuerten, elektronischen Rechenanlagen" eine "Vielfalt der Anwendungsmöglichkeiten" böten. Für die Benutzer derartiger Rechenanlagen sei "nicht entscheidend, was die Maschine" tue, "wichtig [...] allein" sei, "wie man die Funktion der Maschine" interpretiere.
Die Stuttgarter Gruppe/Schule "interpretierte" wissenschaftlich, indem sie mit Hilfe elektronischer Rechenanlagen Häufigkeitswörterbücher herstellte und für exakte statistische und ästhetische Textanalysen nutzte; sie "interpretierte" aber auch literarisch, indem sie das Verfahren der Herstellung von Wortindices praktisch umkehrte und den Computer anwies, "mit Hilfe eines eingegebenen Lexikons und einer Anzahl von syntaktischen Regeln Texte zu synthetisieren und auszugeben".
Das erste Programm von 1959, das aus circa 200 Befehlen bestand, brachte aus heutiger Sicht zwar noch kein aufregendes Ergebnis, hatte aber für uns den Wert einer Inkunabal "künstlicher Poesie", die Bense kurze Zeit später theoretisch von der "natürlichen Poesie" unterschied, wobei sich - was die Sache besondes aufregend machte - eine Begriffspaar aus dem "Allgemeinen Brouillon" des Novalis in seiner Bedeutung geradezu umkehrte.
Spuren solcher "künstlichen Poesie" lassen sich, eingearbeitet in "natürliche" Texte, z.B. in meinen "fingerübungen" (1962), der "Prosa zum Beispiel" (1965) oder in Benses/Ludwig Harigs "Monolog der Terry Jo" aus dem Jahre 1968 finden. Wir haben diese Ansätze außer in Vorträgen und Diskussionen dann allerdings nicht weiter verfolgt, sondern unser Interesse an künstlerischer Produktion mit neuen Medien und Aufschreibsystemen in andere Richtungen ausgedehnt.
Daß ein solches Interesse auch die bildende Kunst einschloß, es nach den Versuchen mit maschinell erzeugten Texten bald auch zu Versuchen mit computergenerierter Grafik (Georg Nees, Frieder Nake) und einer ersten, in ihrem Verlauf äußerst turbulenten Ausstellung von Computer-Grafik in der Galerie des Studium Generale kam, sei wenigstens angemerkt, verwiesen auch auf Vorträgeüber konkrete und elektronische Musik sowie Versuche mit maschinell bzw. mit nicht instrumental erzeugter Musik.
Wichtig scheint mir dabei der Hinweis, daß diese Experimente mit computergenerierter Grafik, konkreter Musik und der Verbindung von Sprache und Elektronik parallel zu sehen sind mit dem in Stuttgart damals virulenten Interesse an einerkonkreten bzw. visuellen Poesie, an Permutationen, Würfeltexten oder dem Cut-up-Verfahren, so daß das einzige, von Bense und mir geschriebene Manifest der Stuttgarter Gruppe/ Schule, "Zur Lage", in Bündelung einer Vielzahl experimentell erprobter Textsorten folgende Tendenzen unterschied: "1. Buchstaben = Typenarrangements = Buchstaben-Bilder / 2. Zeichen = grafisches Arrangement = Schrift-Bilder / 3. serielle und permutationelle Realisation = metrische und akustische Poesie / 4. Klang = klangliches Arrangement = phonetische Poesie / 5. stochastische und topologische Poesie / 6. kybernetische und materiale Poesie"; dann aber hinzufügte, daß "in den meisten Fällen [...] diese Möglichkeiten nicht in reiner Form verwirklicht und vorgeführt" würden. "Wir ziehen die Poesie der Mischformen vor". Solche Mischformen wurden auf anderer Ebene 1972 auch Thema einer Wanderaustellung der Staatsgalerie Stuttgart ("Grenzgebiete der bildenden Kunst"), an deren Aufbau wir mitgearbeitet hatten.
Es ist rückblickend wichtig, daran zu erinnern, daß es neben dem Interesse an den Wechselbeziehungen zwischen den Künsten, zwischen Kunsthervorbringung und neuen Aufschreibsystemen in Seminaren, vor allem in Veranstaltungen des Studium Generale und in Publikationen selbstverständlich ein ebenso großes Interesse an internationaler experimenteller Literatur, Kunst und ihren Traditionen gab, das historisch eine Auseinandersetzung mit dem Werk Gertrude Steins, James Joyces, dem Kubismus, Dadaismus und anderen Ismen einschloß. Aktuell diskutierten und veröffentlichten wir über Werke des Nouveau Roman , Raymond Queneaus, der Werkstatt für potentielle Literatur (Oulipo),Georges Perecs, Marc Saportas, der Beat Generation u.a. Wenn Haroldo de Campos 1970 schrieb: now i'm cummings! / pound attention! / finneganswait for me! / joyce a moment! / mallarmé! / and arno holzwege!, deutet er über das Wortspiel hinaus ein Feld damaliger und anhaltender Interessen an.
Der Name Campos, der hier auch für die Brasilianische Noigandres-Gruppe steht, verweist zugleich auf ein weiteres Charakteristikum der Stuttgarter Gruppe/Schule, ihre internationale Verflechtung, die sich neben Gemeinschaftsarbeiten und Korrespondenzen u.a. in der Tradition des Renga/Renku/Renshi oder der mail art über die Jahre fortschrieb. Als sich 1994 auf dem Stuttgarter "Symposium Max Bense" ("Semiotik und Ästhetik / Ungehorsam der Ideen / Wirkungen") Wissenschaftler und Künstler trafen, behandelten ihre Referate speziell auch Beziehungen zu Frankreich, der Tschechoslowakischen, heute Tschechischen Republik , Brasilien,Japan, der Türkei u.a.
Als wir infolge dieses Symposiums begannen, die reproduktiven und produktiven Möglichkeiten des Internets zu diskutieren, lag es nahe, den Gedanken der poetischen Korrespondenz für das Internet, das Internet für ihm gemäße und mögliche poetische Vernetzungen zu nutzen, und dies in mehrfacher Hinsicht. Reproduktiv bot sich das Internet an als ein Ort, die im offiziellen Kultur- und Kunstbetrieb nur bedingt wahrgenommenen Interessen der Stuttgarter Gruppe/Schule in Erinnerung zu bringen, umso mehr, als die Arbeit mit und im Internet uns als eine logische Konsequenz unserer frühen Auseinandersetzung mit stochastischen Texten, Computergrafik, konkreter und elektronischer Musik u.a. schien. Entsprechend haben wir inzwischen angefangen, hier einschlägige (oft unveröffentlichte) Vor- und Beiträge durchzusehen und für das Internet zu redigieren.
Ausgangspunkt für
die produktiven Stuttgarter Internetprojekte (zusammen mit Johannes Auer)
waren dagegen aktuelle Anlässe, als erster der 50. Todestag Gertrude
Steins, für die wir im Internet ein virtuelles internationales "Epitaph"
errichteten und mit einer Ausstellung, dem "Memorial
Gertrude Stein" vernetzten dergestalt, daß das "Epitaph" auch
Teil der "Memorials" war, das seinerseits den Schlußstein des "Epitaphs"
setzte. Ein zweites Internetprojekt, "H.H.H.
Eine Fastschrift", entstand anläßlich des 75sten Geburtstags
Heißenbüttels und wurde, bedingt durch seinen plötzlichen
Tod, mit einem wiederum weltweit geknüpften "Epilog"abgeschlossen.
Augenblicklich arbeiten wir an einem achtsprachigen "poemchess", haben aber auch einzelne Texte zu den Spielregeln, d.h. technischen Bedingungen des Internets eingegeben, um die These zu überprüfen, daß stochastische, permutationelle ("Der Tod eines Fauns"), konkrete ("Das Buch Gertrud"), aleatorische ("makkaronisch für niedlich" ) und andere Strukturen und Traditionen die ästhetischen Spielmöglichkeiten des Internets, Hypertext, animierter Bild- und Hypertext, programmierter Text, bereits antizipieren.
Daß in Zukunft das Internet zunehmend auch Verbindungsmöglichkeiten von Text, Bild und Ton in immer komplexerer Form ermöglicht, ist für uns nur eine Frage der Zeit, wie wir überzeugt sind, daß das künstlerische Experimentieren mit und zu den Spielregeln und -möglichkeiten des Internets zu einer neuen ästhetischen Kultur führen könnte, die die Ästhetik des Films, des Radios, des Fernsehens fortschreiben wird: oral culture - print culture - electronic culture - internet culture.