von Reinhard Döhl
Vor gut 40 Jahren, am 25.6.1955, nennt Helmut Heißenbüttel
in einem Brief an Eugen Gomringer Gertrude Steins rose is a rose is
a rose is a rose [...] das Muster einer Konstellation, um fort- zufahren:
Überhaupt sei Gertrude Stein eine Fundgrube. Kennen Sie AS A WIFE
HAS A COW A LOVE STORY? Und Heißenbüttel ergänzt am
25.7.1955: Ich habe mich inzwischen abgemüht, etwas über Ger-
trude Stein für AUGENBLICK fertig zu machen, was ich schon seit
längerer Zeit vorhatte, aber es will nicht klappen. Hoffe aber,
daß ich es noch zustande bringe. Um es kurz zu machen: Heißenbüttel
hat zustande gebracht. Sein Aufsatz erschien noch 1955 unter dem Titel
Reduzierte Sprache. Über ein Stück [!, R.D.] von Gertrude
Stein in Max Benses inzwischen legendärer Zeitschrift augenblick
und markiert ziemlich genau den Beginn der Gertrude-Stein-Rezeption
in der Bundesrepublik, genauer in Stuttgart. Ich will damit nicht unterschlagen,
daß auch anderen Orts eine Auseinandersetzung mit dem Werk Gertrude
Steins stattfand, etwa in der von Franz Mon mit herausgegebenen, inzwischen
ebenfalls legendären Anthologie >movens< oder im literarischen
Werk Ernst Jandls, hier sogar bis in die Diktion hinein. Aber beides
datiert später. Und überdies handelt es sich um Autoren, die
der
Stuttgarter Schule/Gruppe um Max Bense durchaus nahe standen.
Die Stein-Rezeption in Stuttgart im Detail nachzuzeichnen,
kann nicht Gegenstand einer Ausstellungseröffnung sein. Hier
verweise ich den Interessierten auf den Aufsatz Gertrude Stein
und Stuttgart, der 1994 in der Zeitschrift Semiosis erschienen ist, und beschränke mich auf die Skizze, daß in der Stuttgarter Stein-Rezeption deutlich zwei Phasen unterschieden werden
müssen:
Eine erste Phase der Landnahme durch die Stuttgarter Gruppe/Schule in den 50er/60er Jahren, in der es wesentlich darum ging,
erst einmal mit dem Werk Gertrude Steins vertraut zu werden,
aber auch, sich von ihr produktiv anregen zu lassen - durchaus
in Opposition zu einer politischen Wirklichkeit, die im Interesse der Machterhaltung das Experiment verteufelte.
Unabhängig von und zunächst auch in Unkenntnis dieser Landnahme folgte mit Beginn der 90er Jahre eine zweite Phase der Stutt-
garter Steinrezeption, die man, W. H. Auden folgend, als colonisation charakterisieren könnte. Sie war wesentlich gebunden an
Lehrende (Gerdi Sobek-Beuter vor allem, dann Klaus Feßmann) und
Lernende der Stuttgarter Musikhochschule, als Hommage für die
Mutter der Moderne konzipiert, bündelte Texte Gertrude Steins,
später der Stuttgarter Gruppe, schließlich originale Beiträge,
auch in anderen Kunstarten und wirkte durch Gastspiele in Karlsruhe, Hamburg, Wuppertal, in Frankreich und Österreich sogar
über Stuttgart hinaus. Höhepunkt und Bilanz war ein I.M.P.U.L.
S.E getitelter Querschnitt durch die Programme der insgesamt
dreiteiligen Hommage in der Aula der neueröffneten Hochschule
für Musik und darstellende Kunst am 4. Mai dieses Jahres.
Nichts mit dieser Veranstaltungsreihe zu tun hat ein drittes
Stuttgarter Gertrude-Stein-Unternehmen, das auf die erste Rezeptionsphase zurückgreift und mit der heutigen
Ausstellung abgeschlossen wird. Von ihm allein ist im folgenden die Rede.
Ursprünglich hatten Künstler um die Galerie Buch Julius, wie
schon anläßlich des 50. Todestages Else Laker-Schülers,
an eine
kleine mail-art-Aktion gedacht. Doch setzte sich in den vorbereitenden Gesprächen immer mehr der Gedanke einer Gertrude Stein
eher entsprechenden internationalen Öffnung und Erweiterung
durch, so daß ich Anfang des Jahres befreundete Künstler
von
Finnland bis Frankreich, von Tokio bis T_ebovice, von Peking bis
Prag (oder, damit auch Susanne und Wil Frenken alphabetisch zu
ihrem Recht kommen: von Beijing bis Bode) einlud, sich an einem
Gertrude-Stein-Memorial mit 1 bis 3 Arbeiten auf Papier zu beteiligen. Notabene: überwiegend Künstler, mit denen ich auch
in
mail-Art-Kontakt stehe. Und ich erfuhr dabei, wie die heutige
Ausstellung schnell deutlich macht, erfreuliche Zustimmung.
Natürlich ist ein Großteil der ausstellenden Künstler
Stuttgart bereits seit der ersten Rezeptionsphase enger verbunden:
Franz Mon zum Beispiel oder der Japaner Hiroo Kamimura, Ilse und
Pierre Garnier aus Paris/Amiens, Bohumila Grögerová, Josef
Hiral und Eduard Ov_a_ek aus der Tschechischen Republik, Wil
Frenken, den es aus dem Rhein- und Burgenland über Stuttgart
inzwischen nach dem schon genannten Bode verschlagen hat, oder
Hans Brög, der ja über seinen ersten Drucker, Hansjörg
Mayer,
und seinen Doktorvater, Max Bense, dem Umkreis der Stuttgarter
Gruppe/Schule durchaus zugerechnet werden kann.
Andere Künstler wie Albrecht/d, Dietrich Fricker, Dieter Gölbenboth sind der Galerie Buch Julius von Anfang an verbunden und
damit einem Ausstellungsprogramm, in dem die Stuttgarter Gruppe/Schule einen zentralen Stellenwert hat. Nicht ohne Hintersinn
hat Göltenboth denn auch der heutigen Ausstellung zwei Arbeiten
aus den frühen 70er Jahren beigesteuert.
Besonders freue ich mich aber, daß heute zum ersten Mal Arbei-
ten befreundeter Künstler aus Finnland und China, von Mikko
Paakkola, mit dem zusammen ich in der Pariser Cité International
des Arts gearbeitet habe, von Chong Li Bai, Professor an der
Akademie in Peking, und von Li Wen Bai, die ich in Prag kennen
lernte, kurzum -
Besonders freue ich mich, daß heute zum ersten Mal auch Arbeiten befreundeter Künstler aus China und Finnland mit von der
Partie sind und so die Partnerschaft erweitern in jenem mir so
wichtigen internationalen ästhetischen Dialog, den die Stuttgarter Schule/Gruppe seit den endfünfziger Jahren gegen die
Provinzialität nicht nur dieses Landes zu führen sich bemüht.
[Und ich muß zugleich hinzufügen, daß ich traurig darüber
bin,
daß es uns trotz einiger Mühe nicht gelungen ist, israelische
Künstler, Künstler aus Israel zur Mitarbeit zu bewegen, mit
denen wir gerne ins Gespräch gekommen wären über Sätze
Gertrude
Steins wie zum Beispiel:
- Der moderne Jude der den Glauben seiner Väter aufgegeben hat
kann vernünftig und konsequent an Isolation glauben.
- Wir können meinen und wir wissen daß wir unser Land so
lieben.
- Können wir glauben daß alle Juden diese sind.]
Zu den ausgestellten Arbeiten selber möchte ich wegen der
Vielfalt ihrer Auseinandersetzung im Einzelnen nur wenig sagen,
hinweisen jedoch darauf, daß die fernöstlichen Freunde -
naheliegend - auch mit dem Namen Stein, chinesisch shí, japanisch
ishí, spielen und dabei zu recht unterschiedlichen Lösungen
kommen, kaligaphisch meisterhaft (Chong Li Bai), im freien Stil
japanischer Sho-Kunst (Kei Suzuki) oder gar konkret-konstruktiv
(Hiroo Kamimura) in einer Arbeit, die mit ihrem Titel Bunte
Steine zugleich Stifters gleichnamige Sammlung von Erzählungen
einschließlich Vorwort anspielt als auch den zweiten Teil eines
bis heute unveröffentlichten >Buches Gertrud< aus den 60er
Jahren. Ein Hin&Her der Bezüge, dem sich auch Göltenboths
Foto
eines blauen Steins einfügen ließe.
Natürlich gibt es die Auseinandersetzung mit den inzwischen zu
Formeln gewordenen Dikta Gertrude Steins, so in der Korrespondenz zwischen
Brögs mir gewidmeter Stein- und meiner Brög gewidmeten KopfRose,
bei Sebastian Rogler, der einer gefaxten Rose A FAX IS A FAX IS A FAX
unterschreibt, oder bei Wolfgang Ehehalt, der sich bei seiner Collage
mit Texteinsprengseln - wie seinerzeit Helmut Heißenbüttel
- auf die Sacred Emily von 1913 bezieht, in der die Rosengleichung erstmals,
noch ohne den unbestimmten Artikel im Anfang, begegnet. Nicht ohne Ironie
läßt Ilse Garnier angesichts der ländlichen Realität
Saissevals die Tauben aus Four Saints in three Acts außer in the
gras auch on the roof und in the tree sitzen, gar in the sky sich erheben.
Garnicht populär ist das Zitat, mit dem sich Barbara Wichelhaus
auseinandersetzt:
Jeder der einer wird / der alt genug ist / wird dann ein Toter. /
Sicher werden Alte zu Toten. / Sicher wird jeder / der nicht zum Toten
wird / bevor er alt genug ist / alt genug / zum Toten zu werden. In
Parenthese: ein Zitat, das sich - es geschehen auch am Nesenbach gelegentlich
Zeichen und Wunder - in dieser Woche gut den Dichterworten der Stuttgarter
Zeitung hätte zuordnen lassen. Wenn sich Wil Frenken neben einem
Buch-Objekt älteren Datums jetzt skriptural noch einmal um As a
wife has a cow a love story bemüht, versteht sich das ebenso gezielt
als Rückgriff auf Heißenbüttels Aufsatz aus dem Jahre
1955, wie ein anderes Exponat mit dem ersten Satz des Hauptworts aus
Max Benses Montage Gertrude Stein 1958 spielt: Paris ist eine alte reiche
Dame mit Hut aus der rue Fleuris, die den Boulevard Raspail hinuntergeht.
Aktuelle Wechselbezüge stellen sich schließlich her, wenn
Bohumila Grögerová/Josef Hiral in ihrer Gemeinschaftsarbeit
das Theaterstück Es war morgen was gestern war mit einem siebenmaligen
DNES, also heute kontern. Undsoweiter. Undsofort. Der auf Benses Montage
Gertrude Stein 1958 bezogene Beitrag befindet ist aber nicht nur in
dieser Ausstellung, er begegnet ebenfalls Besuchern, die sich über
die Adresse
http://auer.netzliteratur.net/epitaph/epitaph.htm ins Internet begeben,
wo sie auch die hier ausgestellten Arbeiten von Thomas Raschke, Sebastian
Rogler und Kei Suzuki, ferner eine Sequenz von Rüdiger Tamschick
besichtigen oder Texte lesen können von Bohumila Grögerová,
Josef Hiral, Ilse und Pierre Garnier, Hiroo Kamimura und anderen,
die sich am Bau eines internationalen Epitaphs Gertrude Stein beteiligt
haben, zu dem Johannes Auer und ich am 23. Mai dieses Jahres aufgerufen
hatten. Ich lese als wenigstens ein Beispiel das von Pierre Garnier
geschriebene 8. Epitaph in Übersetzung:
Diese schwarze Tafel mit ihren weißen
Kreidefiguren
war sein erstes Bild
die Dreiecke die Moral das Datum Ludwig
der XIV
eine Hütte in Gallien
diese schwarze Tafel mit den weißen Figuren
genügten ihm zur Kenntnis der Welt
bis ans Ende seiner Tage
dann beim Abwischen würde er
andere viel tiefere Werke finden
als die schwarze Tafel und Guernica
im Tod wo er als erstes lesen würde
these stanzas are done.
Epitaph und Memorials sind also intentional vernetzt, das Epitaph ist
Teil des Memorials, das Memorial schließt das Epitaph ab, dessen
letzter Beitrag im Internet denn auch lautet:
when this you see remember me
because I am coming
certainly I am coming
certainly I come having come.
Memorial Gertrude Stein.
Eine Ausstellung
vom 27. Juli bis 2. Oktober 1996.
Buch Julius
Charlottenstraße 12
70182 Stuttgart.
Telefon 0711/240709.
Fax 0711/2360816.
These stanzas are done.
Es ist meines Wissens das erste Mal, daß ein Internetprojekt
und eine Kunstausstellung - auch thematisch - derart verknüpft
sind, daß ein Internetprojekt Teil einer Ausstellung wird, mit
der zusammen sich erst ein Ganzes bildet und umgekehrt.
Übrigens werden für das Epitaph Gertrude Stein während
des
laufenden Memorials noch Beiträge entsprechend den vorgegebenen
Spielregeln aufgenommen und integriert. Wer also mitbauen
möchte, sei hiermit herzlich eingeladen zu einem Spiel das -
ganz im Sinne Gertrude Steins - nicht und nun heißt. Womit denn
auch die Ausstellung endlich eröffnet wäre.
Reinhard Döhl, 27.7.1996.