Abb.1
Was man auf der Abbildung 1 sieht, hat auf den ersten Blick vielleicht
wenig mit Phraseologie zu tun, aber wie so oft, täuscht der erste
Blick. Auf alle Fälle wird bei jemandem, der ein gewisses Maß
an europäischer Bildung hat, sich ein deja vu-Effekt einstellen,
und jemand, der sich in dem Kontext bewegt, aus dem dieses Bild stammt,
d.h. im Kontext der modernen Kunst, wird auch wissen, dass es sich hier
um die Wiederverwendung eines nachgestellten Gemäldes handelt. Das
Gemälde aus dem Jahre 1807 stammt von dem großen französischen
Klassizisten Jean Auguste Dominique Ingres und trägt den Titel Akt
von hinten gesehen. Noch bekannter das im Jahre 1808 gemalte ähnliche
Bild Die Badende von Valpencon sein. Ingres, der seine klassizistischen
Prinzipien mit größter Strenge verfolgte und die Gestaltung
der Natur seinem Formwillen unterordnete, kämpfte letztlich vergeblich
gegen seine romantischen Zeitgenossen Delacroix und Gericault, die im
Gegensatz zu seiner zeichnerischen Formstrenge der Farbe den Vorrang gaben.
Über 200 Jahre später verwendete ein aus New York nach Paris
gekommener Künstler diese Ikone des Klassizismus, um damit erstarrte
Kunstformen und -grenzen seiner Zeit zu überschreiten. Man Ray hatte
eine Reihe von Photos mit Kiki de Montparnasse gemacht, auf denen einige
Bilder von Ingres nachgestellt waren, so z.B. La Source, (bei Man
Ray Kiki de Montparnasse; auf diesem Foto tritt sie nackt hinter
dem Paravent hervor und hält sittsam die Hand vor sich). Das berühmteste
dieser Bilder führt jedoch direkt zur Phraseologie, hat es doch einen
phraseologischen Titel und stellt diesen auch dar, wenn auch nicht in
einer eins zu eins bildlichen Darstellung der direkten oder übertragenen
Bedeutung dieses Phraseologismus (Abb. 2). Kiki de Montparnasse nahm hier
die Pose des Modells von Ingres an. Auf das Foto ihres Rückens übertrug
Man Ray dann durch Kontaktphotographie ein Bild der F-Löcher einer
Geige. Bekanntlich war Ingres' Hobby das Geigespielen, und im Französischen
bedeutet der Ausdruck violon d'Ingres heute "Hobby".
Der Biograph von Man Ray, Arturo Schwarz erklärt dazu: "Eine
Fotografie wurde so ein erregendes surrealistisches Bild 'durch Koppelung
zweier weit von einander entfernter Wirklichkeiten', die den Torso der
Frau in den Körper einer Geige verwandelten. Außerdem und das
war möglicherweise das, was Man Ray am meisten am Herzen - lag wies
er dadurch darauf hin, dass die Fotografie einfach für ihn sein violon
d'Ingres sei: sein wahres Interesse lag woanders." (Schwarz 1980,
299). Dieser Interpretation mit dem wahren Interesse und dem Hobby muss
man nicht Glauben schenken. Man Ray verdiente sich bekanntlich in jener
Zeit seinen Lebensunterhalt durch fotografische Auftragsarbeiten. Zugleich
war aber die Fotografie für ihn ganz sicher eine Kunstform. Daher
kann man hier auch tiefere Zusammenhänge zwischen Hobby und Kunst
sehen. Zurück zur jüngsten Form dieses Bildes: Hier wird die
Rückenansicht eines jungen Mannes geliefert, an Stelle der
F-Löcher sind Lottozahlen in roter Farbe aufgebracht; an einer, der
angekreuzten Zahl 25 (Man Ray hatte sein Kunstwerk übrigens 1924
hergestellt), fließt rote Farbe herunter. Wir finden eine Unterschrift,
die seltsam auf das Violinespielen Bezug nimmt: Nicht Ingres spielt Violine,
sondern Rusmann
(das ist der Künstler dieses Werkes) spielt Lotto. Natürlich
steht dahinter auch noch eine Anspielung auf die Schach-spielenden Dada-Künstler
Marcel Duchamp, Man Ray u.a. Warum braucht der Künstler dazu aber
ein Messer? Das Messer spielt eine große Rolle in der Avantgarde
und vor allem bei den Surrealisten; so hatte René Crevel ein Buch
mit dem Titel Monsieur Couteau Mademoiselle Fourchette herausgebracht,
zu dem Man Ray das Frontispiz Mr. Knife + Miss Fork angefertigt
hatte. Später (1944) nahm er dieses zum Anlass für ein neues
Kunstwerk, nachdem Crevel, einer der überzeugtesten Surrealisten,
bereits 1935 auch aus seiner surrealistischen Überzeugung heraus
Selbstmord begangen hatte. Messer und Gabel stehen hier sehr deutlich
als Symbol für das männliche und weibliche Prinzip. Bei Rusmann,
einem Mitglied der Künstlergruppe "Das
deutsche Handwerk", ist nicht irgendein symbolisches Messer abgebildet,
sondern ein konkretes Schweizermesser, gleichsam aus der Reklame. Das
Motto auf der Rückseite: Rusmann spielt Lotto: "Die Kunst ist
erledigt, ab jetzt wird breit gefördert" zeigt, wie die ganze
Darstellung, sehr deutlich den Widerspruch zwischen Kunst und Kommerzialisierung
auf, den Widerspruch, zwischen Anspruch und Realität. Das Hobby von
Ingres immerhin noch eine Kunstform, das Hobby von Man Ray, zunächst
sicher nicht als Kunst verstanden, aber gerade durch Man Ray zu einer
bedeutenden Kunstform geworden, und auch in der Darstellung von Man Ray
als Kunst intendiert, wird jetzt als endgültig erledigte Kunst gezeigt,
deren Künstler Lotto spielt (nicht Violine oder gar fotografiert)
dennoch wird breit gefördert (auch durch den Lottofonds, wie wir
alle wissen). Die Künstler der Gruppe "Das deutsche Handwerk"
haben in der Auseinandersetzung mit der Avantgardebewegung und ihrer jeweiligen
Vereinnahmung durch die Kunst und vor allem dem Kunstbetrieb, auf einige
Mechanismen der Kunst hingewiesen und gerade in (spielerisch, ironischer
Auseinandersetzung mit diesen) ihre "neue" Kunst begründet.
Sie haben dabei vor allem auch die wichtige Auseinandersetzung zwischen
den Wörtern und den Bildern, die ein grundlegendes Thema der Avantgardekunst
und des Surrealismus sind, spielerisch, ironisch verarbeitet. Eine der
zentralen Fragen der modernen Kunst und auch der modernen Erkenntnistheorie
ist die nach dem Verhältnis von Wirklichkeit, ihrer Wahrnehmung und
Darstellung bzw. ihrer Konstruktion: wie die sprachlichen Bezeichnungen
für die Dinge bloße Konventionen sind, so sind auch die bildlichen
Darstellungen dieser Dinge abhängig von den Gewohnheiten, wie diese
dargestellt werden. Die komplexen Beziehungen zwischen den Dingen der
Realität, ihrer sprachlichen Bezeichnung und ihrer bildlichen Darstellung
hat vielleicht am konsequentesten Rene Magritte bereits 1929 in seiner
kurzen Abhandlung "Les mots et les images" behandelt. In dieser
Abhandlung gab es u.a. ein Bild von einem Pferd vor einer Staffelei mit
Bild, auf dem ein Pferd zu sehen war, und einem Mann, der die Sprechblase
"Pferd" äußerte, mit der Überschrift Un objet
ne fait jamais le meme office que son nom ou que son image. Das Bild La
Trahison des images 1929: Ceci n 'est pas une pipe (Abb. 3, im Original
farbig, Öl auf Leinwand) sollte eine Ikone der modernen Malerei werden.
1966 hatte Magritte dieses Thema in Les deux mysteres (Abb. 4)
nochmals behandelt. Diese Darstellung diente M. Foucault zu einer grundsätzlichen
Untersuchung, in der zwar wichtige Zusammenhänge aufgezeigt werden,
die aber gerade für das betreffende Objekt als Fehlinterpretation
zu bezeichnen ist. Während Foucault die Autonomie der Zeichen betonte
und Magritte als denjenigen sah, der sowohl die visuellen als auch die
verbalen Zeichen von der Abhängigkeit und jeder Bindung an das Bezeichnete
befreit, ging es Magritte vielmehr darum, das Mysterium der Dinge aufzuzeigen.
Nicht nur ihre Bezeichnung oder Abbildung, auch die Dinge selbst sind
für uns unerreichbar, darin liegt ihr Mysterium. Mit seiner Betonung,
dass die Abbildung bzw. Bezeichnung des Gegenstandes nicht der Gegenstand
selbst sei, möchte Magritte gerade auf das Mysterium, die für
uns unerreichbare Existenz der Dinge selbst verweisen (vgl. dazu Lüdeking
1996). Die Interpretation Foucaults hat sich, auch wenn sie den Intentionen
Magrittes zuwiderlief, weitgehend durchgesetzt, und seine Auffassung von
den "frei zirkulierenden Zeichen", vom Denken, das unabhängig
von den Dingen "alles ganz nach eigenem Belieben zur Erscheinung
bringen kann", ist heute weit verbreitet. Nach dieser Interpretation
demonstrieren die Bilder Magrittes, jene semantische Leere, ... jene Bodenlosigkeit,
über der die referenzlos gewordenen Zeichen in einen delirierenden
Taumel verfallen." (Lüdeking 1996: 69) Wie weit aber diese Position
wiederum zu einer Schablone geworden ist, wird. gerade aus der ironischen
Replik von F. Rusmann deutlich (Abb.
5).
Die Wirklichkeit der Zeichen der Kunst (das Stereotyp) dient hier dazu,
die Kanonisierung der antimimetischen Einstellung der Moderne und Postmoderne
zu dekanonisieren. Bereits seit dem Manierismus, besonders aber in der
klassischen Moderne werden die Malmittel autonomisiert, was als letzte
Konsequenz eine Kunst zur Folge hat, "die in permanenter Befragung
von Sehgewohnheiten, die 'Alltagssicht' des Betrachters zur pathologischen
Ausnahme stilisiert," ... und die. Aufgabe des Künstlers darin
sieht, "die naive Wirklichkeitserfahrung des Betrachters aggressiv
zu transzendieren." (Rusmann
1998: 109f) Das führt nach Auffassung der Künstlergruppe
das Deutsche Handwerk zu einer Pathologisierung des Betrachters, da durch
eine Kunst, "die immer neue Sehgewohnheiten prüfen will,"
... "die Weltsicht des Betrachters zur Chimäre" ... erklärt
und "Menschen mit solchem Realitätsverlust... gewöhnlich
in die Psychiatrie eingewiesen und verwahrt" werden. (ebenda
112) Das Deutsche Handwerk setzt dagegen auf "Einfalt" und
"Gefühl". Mit Einfalt ist eine Motivwahl gemeint, die sehr
allgemein, ja trivial sein soll, damit der Betrachter zur Assoziation
verführt wird und aus sich selbst heraus das Kunstwerk und seine
Präsentation je neu erschaffen kann, wobei das Ergebnis egal ist.
Es geht um die "Sublimierung oder Veredelung des Privaten".
Gefühl bedeutet Respekt vor der Subjektivität des Betrachters.
Rusmann hat die Forderungen von Beuys nach Kunst von und für jedermann
und von Andy Warhol, jeder Mensch habe im Leben die Chance, 15 Minuten
berühmt zu sein, mit einer Idee von art-wear in die Tat umzusetzen
versucht, die zugleich den Kunstwerken ihre Aura wiedergibt, die sie ja
mit Benjamin seit den Zeiten ihrer massenhaften Reproduktion verloren
haben. Man kann
im Internet bei Rusmann ein T-Shirt mit einem seiner Bilder bestellen,
sich dann mit einem Mitgliedspassword auf Rusmanns Homepage einloggen
und ankündigen, wo und wann man mit diesem T-Shirt zu besichtigen
sein wird - als eine Art working-exhibition...".
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