Prof. Dr. Wolfgang Eismann; Graz

aus:
Bilder von Sprachbildern - Sprachbilder von Bildern.
Man Ray und die Phraseologie, 2000


Abb.1

Was man auf der Abbildung 1 sieht, hat auf den ersten Blick vielleicht wenig mit Phraseologie zu tun, aber wie so oft, täuscht der erste Blick. Auf alle Fälle wird bei jemandem, der ein gewisses Maß an europäischer Bildung hat, sich ein deja vu-Effekt einstellen, und jemand, der sich in dem Kontext bewegt, aus dem dieses Bild stammt, d.h. im Kontext der modernen Kunst, wird auch wissen, dass es sich hier um die Wiederverwendung eines nachgestellten Gemäldes handelt. Das Gemälde aus dem Jahre 1807 stammt von dem großen französischen Klassizisten Jean Auguste Dominique Ingres und trägt den Titel Akt von hinten gesehen. Noch bekannter das im Jahre 1808 gemalte ähnliche Bild Die Badende von Valpencon sein. Ingres, der seine klassizistischen Prinzipien mit größter Strenge verfolgte und die Gestaltung der Natur seinem Formwillen unterordnete, kämpfte letztlich vergeblich gegen seine romantischen Zeitgenossen Delacroix und Gericault, die im Gegensatz zu seiner zeichnerischen Formstrenge der Farbe den Vorrang gaben. Über 200 Jahre später verwendete ein aus New York nach Paris gekommener Künstler diese Ikone des Klassizismus, um damit erstarrte Kunstformen und -grenzen seiner Zeit zu überschreiten. Man Ray hatte eine Reihe von Photos mit Kiki de Montparnasse gemacht, auf denen einige Bilder von Ingres nachgestellt waren, so z.B. La Source, (bei Man Ray Kiki de Montparnasse; auf diesem Foto tritt sie nackt hinter dem Paravent hervor und hält sittsam die Hand vor sich). Das berühmteste dieser Bilder führt jedoch direkt zur Phraseologie, hat es doch einen phraseologischen Titel und stellt diesen auch dar, wenn auch nicht in einer eins zu eins bildlichen Darstellung der direkten oder übertragenen Bedeutung dieses Phraseologismus (Abb. 2). Kiki de Montparnasse nahm hier die Pose des Modells von Ingres an. Auf das Foto ihres Rückens übertrug Man Ray dann durch Kontaktphotographie ein Bild der F-Löcher einer Geige. Bekanntlich war Ingres' Hobby das Geigespielen, und im Französischen bedeutet der Ausdruck violon d'Ingres heute "Hobby". Der Biograph von Man Ray, Arturo Schwarz erklärt dazu: "Eine Fotografie wurde so ein erregendes surrealistisches Bild 'durch Koppelung zweier weit von einander entfernter Wirklichkeiten', die den Torso der Frau in den Körper einer Geige verwandelten. Außerdem und das war möglicherweise das, was Man Ray am meisten am Herzen - lag wies er dadurch darauf hin, dass die Fotografie einfach für ihn sein violon d'Ingres sei: sein wahres Interesse lag woanders." (Schwarz 1980, 299). Dieser Interpretation mit dem wahren Interesse und dem Hobby muss man nicht Glauben schenken. Man Ray verdiente sich bekanntlich in jener Zeit seinen Lebensunterhalt durch fotografische Auftragsarbeiten. Zugleich war aber die Fotografie für ihn ganz sicher eine Kunstform. Daher kann man hier auch tiefere Zusammenhänge zwischen Hobby und Kunst sehen. Zurück zur jüngsten Form dieses Bildes: Hier wird die Rückenansicht eines jungen Mannes geliefert, an Stelle der F-Löcher sind Lottozahlen in roter Farbe aufgebracht; an einer, der angekreuzten Zahl 25 (Man Ray hatte sein Kunstwerk übrigens 1924 hergestellt), fließt rote Farbe herunter. Wir finden eine Unterschrift, die seltsam auf das Violinespielen Bezug nimmt: Nicht Ingres spielt Violine, sondern Rusmann (das ist der Künstler dieses Werkes) spielt Lotto. Natürlich steht dahinter auch noch eine Anspielung auf die Schach-spielenden Dada-Künstler Marcel Duchamp, Man Ray u.a. Warum braucht der Künstler dazu aber ein Messer? Das Messer spielt eine große Rolle in der Avantgarde und vor allem bei den Surrealisten; so hatte René Crevel ein Buch mit dem Titel Monsieur Couteau Mademoiselle Fourchette herausgebracht, zu dem Man Ray das Frontispiz Mr. Knife + Miss Fork angefertigt hatte. Später (1944) nahm er dieses zum Anlass für ein neues Kunstwerk, nachdem Crevel, einer der überzeugtesten Surrealisten, bereits 1935 auch aus seiner surrealistischen Überzeugung heraus Selbstmord begangen hatte. Messer und Gabel stehen hier sehr deutlich als Symbol für das männliche und weibliche Prinzip. Bei Rusmann, einem Mitglied der Künstlergruppe "Das deutsche Handwerk", ist nicht irgendein symbolisches Messer abgebildet, sondern ein konkretes Schweizermesser, gleichsam aus der Reklame. Das Motto auf der Rückseite: Rusmann spielt Lotto: "Die Kunst ist erledigt, ab jetzt wird breit gefördert" zeigt, wie die ganze Darstellung, sehr deutlich den Widerspruch zwischen Kunst und Kommerzialisierung auf, den Widerspruch, zwischen Anspruch und Realität. Das Hobby von Ingres immerhin noch eine Kunstform, das Hobby von Man Ray, zunächst sicher nicht als Kunst verstanden, aber gerade durch Man Ray zu einer bedeutenden Kunstform geworden, und auch in der Darstellung von Man Ray als Kunst intendiert, wird jetzt als endgültig erledigte Kunst gezeigt, deren Künstler Lotto spielt (nicht Violine oder gar fotografiert) dennoch wird breit gefördert (auch durch den Lottofonds, wie wir alle wissen). Die Künstler der Gruppe "Das deutsche Handwerk" haben in der Auseinandersetzung mit der Avantgardebewegung und ihrer jeweiligen Vereinnahmung durch die Kunst und vor allem dem Kunstbetrieb, auf einige Mechanismen der Kunst hingewiesen und gerade in (spielerisch, ironischer Auseinandersetzung mit diesen) ihre "neue" Kunst begründet. Sie haben dabei vor allem auch die wichtige Auseinandersetzung zwischen den Wörtern und den Bildern, die ein grundlegendes Thema der Avantgardekunst und des Surrealismus sind, spielerisch, ironisch verarbeitet. Eine der zentralen Fragen der modernen Kunst und auch der modernen Erkenntnistheorie ist die nach dem Verhältnis von Wirklichkeit, ihrer Wahrnehmung und Darstellung bzw. ihrer Konstruktion: wie die sprachlichen Bezeichnungen für die Dinge bloße Konventionen sind, so sind auch die bildlichen Darstellungen dieser Dinge abhängig von den Gewohnheiten, wie diese dargestellt werden. Die komplexen Beziehungen zwischen den Dingen der Realität, ihrer sprachlichen Bezeichnung und ihrer bildlichen Darstellung hat vielleicht am konsequentesten Rene Magritte bereits 1929 in seiner kurzen Abhandlung "Les mots et les images" behandelt. In dieser Abhandlung gab es u.a. ein Bild von einem Pferd vor einer Staffelei mit Bild, auf dem ein Pferd zu sehen war, und einem Mann, der die Sprechblase "Pferd" äußerte, mit der Überschrift Un objet ne fait jamais le meme office que son nom ou que son image. Das Bild La Trahison des images 1929: Ceci n 'est pas une pipe (Abb. 3, im Original farbig, Öl auf Leinwand) sollte eine Ikone der modernen Malerei werden. 1966 hatte Magritte dieses Thema in Les deux mysteres (Abb. 4) nochmals behandelt. Diese Darstellung diente M. Foucault zu einer grundsätzlichen Untersuchung, in der zwar wichtige Zusammenhänge aufgezeigt werden, die aber gerade für das betreffende Objekt als Fehlinterpretation zu bezeichnen ist. Während Foucault die Autonomie der Zeichen betonte und Magritte als denjenigen sah, der sowohl die visuellen als auch die verbalen Zeichen von der Abhängigkeit und jeder Bindung an das Bezeichnete befreit, ging es Magritte vielmehr darum, das Mysterium der Dinge aufzuzeigen. Nicht nur ihre Bezeichnung oder Abbildung, auch die Dinge selbst sind für uns unerreichbar, darin liegt ihr Mysterium. Mit seiner Betonung, dass die Abbildung bzw. Bezeichnung des Gegenstandes nicht der Gegenstand selbst sei, möchte Magritte gerade auf das Mysterium, die für uns unerreichbare Existenz der Dinge selbst verweisen (vgl. dazu Lüdeking 1996). Die Interpretation Foucaults hat sich, auch wenn sie den Intentionen Magrittes zuwiderlief, weitgehend durchgesetzt, und seine Auffassung von den "frei zirkulierenden Zeichen", vom Denken, das unabhängig von den Dingen "alles ganz nach eigenem Belieben zur Erscheinung bringen kann", ist heute weit verbreitet. Nach dieser Interpretation demonstrieren die Bilder Magrittes, jene semantische Leere, ... jene Bodenlosigkeit, über der die referenzlos gewordenen Zeichen in einen delirierenden Taumel verfallen." (Lüdeking 1996: 69) Wie weit aber diese Position wiederum zu einer Schablone geworden ist, wird. gerade aus der ironischen Replik von F. Rusmann deutlich (Abb. 5). Die Wirklichkeit der Zeichen der Kunst (das Stereotyp) dient hier dazu, die Kanonisierung der antimimetischen Einstellung der Moderne und Postmoderne zu dekanonisieren. Bereits seit dem Manierismus, besonders aber in der klassischen Moderne werden die Malmittel autonomisiert, was als letzte Konsequenz eine Kunst zur Folge hat, "die in permanenter Befragung von Sehgewohnheiten, die 'Alltagssicht' des Betrachters zur pathologischen Ausnahme stilisiert," ... und die. Aufgabe des Künstlers darin sieht, "die naive Wirklichkeitserfahrung des Betrachters aggressiv zu transzendieren." (Rusmann 1998: 109f) Das führt nach Auffassung der Künstlergruppe das Deutsche Handwerk zu einer Pathologisierung des Betrachters, da durch eine Kunst, "die immer neue Sehgewohnheiten prüfen will," ... "die Weltsicht des Betrachters zur Chimäre" ... erklärt und "Menschen mit solchem Realitätsverlust... gewöhnlich in die Psychiatrie eingewiesen und verwahrt" werden. (ebenda 112) Das Deutsche Handwerk setzt dagegen auf "Einfalt" und "Gefühl". Mit Einfalt ist eine Motivwahl gemeint, die sehr allgemein, ja trivial sein soll, damit der Betrachter zur Assoziation verführt wird und aus sich selbst heraus das Kunstwerk und seine Präsentation je neu erschaffen kann, wobei das Ergebnis egal ist. Es geht um die "Sublimierung oder Veredelung des Privaten". Gefühl bedeutet Respekt vor der Subjektivität des Betrachters. Rusmann hat die Forderungen von Beuys nach Kunst von und für jedermann und von Andy Warhol, jeder Mensch habe im Leben die Chance, 15 Minuten berühmt zu sein, mit einer Idee von art-wear in die Tat umzusetzen versucht, die zugleich den Kunstwerken ihre Aura wiedergibt, die sie ja mit Benjamin seit den Zeiten ihrer massenhaften Reproduktion verloren haben. Man kann im Internet bei Rusmann ein T-Shirt mit einem seiner Bilder bestellen, sich dann mit einem Mitgliedspassword auf Rusmanns Homepage einloggen und ankündigen, wo und wann man mit diesem T-Shirt zu besichtigen sein wird - als eine Art working-exhibition...".