Frieder Rusmann: Die Kunst und der Optiker
Warum Kunst krank macht und wie DAS DEUTSCHE HANDWERK heilt


Werner Hofmann berichtet in seiner - immer noch gültigen - Forschungsarbeit "Grundlagen der modernen Kunst" eine interessante Anekdote: ein chinesischer Herrscher aus dem 17. Jahrhundert habe angesichts eines Portraits von Ludwigs XIV. gefragt, ob es zu dessen Privilegien gehöre, sein Gesicht teilweise dunkel zu färben. Von Lakaien über Licht und Schatten in der europäischen Portraitkunst aufgeklärt, zeigte er sich begeistert, wie stark das französische Kunstwerk seine Sehgewohnheiten verändert habe.

Mit diesem Bericht sind wir mitten in einer europäischen Krankheitsgeschichte, die mit der Renaissance begann und heute epidemisch die ganze Welt einschließt.

"Eroberung der Wirklichkeit" bezeichnet Ernst Gombrich die Neuerungen in der europäischen Malkunst des 15. Jahrhunderts (Die Geschichte der Kunst, 3/1986). Und in der Tat versuchen die Künstler der Renaissance mit neuen Malmitteln Wirklichkeit "realistisch" abzubilden. Der Betrachter ist quasi in die Rolle des Schiedsrichters versetzt, der die Bildwirklichkeit an seiner dreidimensionalen Realitätserfahrung mißt und bewertert.
Jedoch schon mit dem Manierismus wird die - fast möchte man sagen paradiesische - Einheit von Bildraum und Erfahrungsraum aufgekündigt, oder - um im Bild zu bleiben - es kommt zum Sündenfall der Autonomisierung der Malmittel, als dessen letzte Konsequenz eine Kunst stehen wird, die in permanenter Befragung von Sehgewohnheiten die "Alltagssicht" des Betrachters zur pathologischen Ausnahme stilisiert.

Parmigianino beispielsweise setzte bei der "Madonna mit dem langen Hals" 1532 die physiologische Deformation ins Bild. Tintoretto dehnte in seinen Raumfluchten die Zentralperspektive ins Unbestimmbare. El Greco schraubte und zerrte seine Körperlinien ins Ekstatische. Während jedoch - und wir machen nun einen großen zeitlichen Sprung -  die Manieristen die Malmittel (Linie, Perspektive, Farbe...) als eigenständiges Gestaltungs- und Ausdrucksmittel zunehmend selbstgenügend ins Bild setzten, d. h. die Malmittel im Bildraum nicht mehr nur zur Realitätsabbildung nutzten, sondern ihnen eine eigene malerische Realität zubilligten (eine Entwicklung, die letzlich in der klassischen Moderne kulminierte), ist heute die Kunst aggressiv nach außen gekehrt und erprobt ihre Mittel am Betrachter.
Oder anders ausgedrückt: während die Manieristen auf der Folie einer gültigen Realitätsabbildung technisch "spielen" konnten und der Betrachter dieses Spiel gerade als Abweichung vom gültigen Wirklichkeitsbild goutierte, ist Wirklichkeit heute ins Beliebige subjektiviert. Und die Aufgabe des Künstlers ist darin zu sehen, die naive Wirklichkeitserfahrung des Betrachters aggressiv zu transzendieren.

Ich zitiere aus irgendeiner Kunstzeitschrift, die ich an einer zufälligen Stelle aufschlage:

"Und doch sind es Bilder, die durch das Auge in den Körper fließen, stofflich beinahe. Mit dem gewohnten Blick hält man die Dinge in Schach, bleibt in sicherer Distanz, aber manchmal hakt sich der Blick fest, irrt ab, verliert Halt. Stützt in diese Fremdheit, die zugleich in uns selbst ist. Es kann ein kleines Detail sein, eine geballte Hand, der Raum kommt ins schwanken" (SPIEGEL special: Ware Kunst, 12/96 S. 64).

An dieser Stelle wird dem Schreiber übel, er speit ein wenig über die farbenprächtigen Reproduktionen und hat gelernt, daß gute zeitgenössische Kunst seekrank macht.

In der Regel sind jedoch die Auswirkungen von Kunst weniger dramatisch, meist wird heute eine "Befragung der herrschenden Sehgewohnheiten" als ausreichend betrachtet.

Zufallszitat No. 2:

"Es geht also auch um einen (...) Blick, der die Brüche aufspürt, (...) und die herrschende Wahrnehmungsweise befragt" (ebenda, S.53).

Warum nun diese hartnäckige Befragerei? "Hey, Künstler", ruft der gemeine Mann, "laß heute bloß meine Sehgewohnheiten in Frieden".

Der Künstler Roy Lichtenstein vermag uns mit seinem Werk den benötigten Fingerzeig zu geben.
Roy Lichtenstein hat die Pathologisierung des Betrachters durch Kunst zum grundlegenden Thema seiner Arbeit gemacht und ironisiert, indem er durch die gemalte extreme Vergrößerung, quasi als Sehhilfe, die Rasterpunkte des Zeitungsbildes sichtbar macht.
Roy Lichtenstein: Magnifying Glass
Lichtenstein produzierte sozusagen "Kunst für Kurzsichtige". Überdeutlich wird er dabei in seinem "Magnifying Glass" von 1963, in dem er die Sehhilfe "Lupe" verbildlicht bei der Sichtbarmachung von Rasterpunkten.
Lichtenstein weist so ironisch dem Betrachter die Rolle des Augenkranken zu, der nur durch die Hilfe des Künstlers "sehend" wird.

Oder anders ausgedrückt: eine Kunst, die immer neu "Sehgewohnheiten prüfen will", erklärt die Weltsicht des Betrachters zur Chimäre. Menschen mit solchem Realitätsverlust werden gewöhnlich in die Psychiatrie eingewiesen und verwahrt.
 

DAS DEUTSCHE HANDWERK ist gegen diese Pathologisierung des Betrachters. Mit seinem Begriff der "Einfalt" und des "Gefühls" entläßt es ihn aus der Entmündigung.
"Einfalt" bedeutet dabei eine Motivwahl, eine Ausstellungskonzeption, die so allgemein, ja trivial gefaßt ist, daß der Kunstrezipient zur Assoziation verführt wird und damit quasi aus sich heraus das Kunstwerk und seine Präsentation je neu erschafft.
Dabei ist das Ergebnis im Grunde scheißegal, wichtig ist der Projektionsakt, die Sublimierung oder Veredelung des Privaten.
"Gefühl" bedeutet den stillen Respekt vor der Subjektivität des Betrachters, seiner inneren Größe. Während die anderen Künstler sagen "Lampe, ich zeig dir die Welt" sagt DAS DEUTSCHE HANDWERK "Lampe, wir knipsen dir dein Licht an, und du siehst deine Welt". So wird das Beuysche Verdikt "Jeder Mensch ist ein Künstler" zur Medizin des DEUTSCHEN HANDWERKs und der nunmehr schöpferische Betrachter kann geheilt entlassen werden.

Und während der wirkliche Hase beglückt durch die wirkliche Wiese springt, geht uns ein wirkliches Lied durch den wirklichen Kopf:

real, real
egal, egal
legal, legal
final, final
 
 

Frieder Rusmann 1997