Gekürzte Fassung eines Vortrages gehalten beim Symposium: Digitaler Diskurs (Internet und Literatur),
Atelierde recherche et de création artistiques  (ARC) Romainmôtier, 21. bis 24. Januar 1999

In ähnlicher Form erschienen in: Hyperfiction. Hyperliterarisches Lesebuch: Internet und Literatur
[mit CD-ROM], hrsg. von Beat Suter und Michael Böhler, Stroemfeld / Nexus, Basel u. Frankfurt a.M. 1999, S. 173ff.
 


Der Leser als DJ
oder was Internetliteratur mit HipHop verbindet


von Johannes Auer


"In cyberspace", sagt Benjamin Whooley, "everyone is an author, which means no one is an author: the distinction from the reader disappears. Exit author..." 1

Dieses Phänomen des Wreaders 2 (des Lesers "Reader", der auch Autor "Writer" ist) birgt - zur Ideologie erstarrt  - Gefahren in sich. Uwe Wirth schreibt: "In dem Maße, in dem Hypertexte auf eine Struktur, bzw. auf eine interne Kohärenz verzichten, um sich ganz den Entscheidungen des Lesers zu öffnen, verwischt die Grenze zwischen Interpretation und Gebrauch. Ein total offener Hypertext ist daher völlig uninterpretierbar." 3 Oder anders ausgedrückt: er ist sinnlos. Was muß hinzutreten, um hypertextuell (oder filmisch oder visuell oder sonstwie) organisierte Fiction im Internet erfolgreich zu gestalten, ohne gleich die auktoriale Erzählhaltung reanimieren zu müssen?

Beim Pegasus 98 erhielt der Poetry-Rapper Bastian Bötticher, Mitbegründer des HipHop-acts "Zentrifugal", einen Sonderpreis für den "Looppool". Mit diesem kann man per Tastatur durch ein kreisrundes Textlabyrinth navigieren und damit vorgegebene Satzbausteine verknüpfen. Die kombinierten Satzmodule werden als Rap, mit Musik unterlegt, hörbar. Auf den ersten Blick werden hier also Strukturmerkmale des Hypertext, die Textmontage per Mausklick, mit dem Sprechgesang des Raps verschmolzen und als Musikstück, als HipHop ausgegeben.

Auf den 2. Blick wird diese Analogie jedoch brüchig.
HipHop kann kurz definiert werden als Sprechgesang, als das Erzählen einer Geschichte unterlegt von Musik, die ein DJ aus kurzen Phrasen, herausgelöst aus fertigen Musikstücken, samplet. Diese Musikzitate oder Sound-Patterns werden nach mehrfachen Wiederholungen, das Loop, mit weiteren Phrasen kombiniert und durch ein Rhythmuslinie, die ebenfalls gesamplet sein kann, verbunden.

Was Böttiger den Leser in seinem Looppool machen läßt, scheint mir nun weniger "rappen" zu sein, als die Arbeit des DJ zu imitieren, der statt mit Musikphrasen hier mit Textbausteinen arbeitet. Geloopt wird durch die Struktur des Looppools selbst.
Es drängt sich also eher die Musikanalogie des "Techno" auf, die sich verkürzt gesagt als HipHop ohne Rap mit überdominanter, schneller und harter Rhythmuslinie beschreiben läßt.

Und in der Tat versteht der Techno-DJ "Spooky" sein DJ-ing als "Recombining of Musical Patterns" und seine Musik als eine narrative Strategie. 4 Ist der Leser eines Hypertextes also am besten mit einem DJ vergleichbar, der sich durch eifrige Mausclicks seine Texte samplet?
Irgendwie schon und irgendwie steckt in dieser Metapher auch der ganze Frust, der allenthalben gegenüber der Hyperfiction formuliert wird. Wenn Techno wie Cordt Schnippen formuliert "Industriemusik" ist, zu der sich der Raver als "Menschenmaschine" bewegt" 5, so ließe sich in verkürzten Analogiebildung der Leser des Hypertextes als Zap-Maschine charakterisieren. Bernd Wingert konstatiert eine mögliche Aufmerksamkeitsverschiebung bei der Hypertext-Lektüre vom Text zum Sprung, die er zurecht als die "zentrifugalen Kräfte" 6 bei der Hypertext-Lektüre charakterisiert.
Uwe Wirth sieht "für die hypertextextuell organisierte Literatur im Internet" eine "Analogie zu McLuhans Schlagwort, daß das Medium die Botschaft" 6a  ist. Und meint damit, wenn ich ihn richtig verstehe, daß ein offener und damit uninterpretierbarer Hypertext als Sinn letztlich nur noch seine strukturale Organisation feiert.

Wie kann dieser gordische Netzknoten zerschlagen werden?
In Heinz Mosers Aufsatz: "Die Ohnmacht des Autors im Netz", finden wir folgenden Hinweis: "Das World-Wide-Web" (...) als Medium einer popular culture, (...) bewahrt jenes Aktivitätspotential (...), das darin besteht, dass der Konsument gleichzeitig ein Produzent von Bedeutungen wird. Und um diese Bedeutungen bilden sich Fangemeinden, Subkulturen und Interessengruppen, welche die Rolle jenes Subjekts übernehmen, die vormals im souveränen Autor zu finden war." 7

Was Moser hier als Bedeutungen charakterisiert, um die sich "Fangemeinden, Subkulturen und Interessengruppen" ranken, scheint mir auf ein wichtiges Strukturmoment des Internets zu verweisen, wie den Topic in Newsgroups, das Thema der Mailingliste oder der Name eines Chatrooms etc. Dieser inhaltlich/thematischen Klebstoff läßt aus heterogenen und zufällig entstanden Diskutierenden eine Einheit werden. Wobei die Diskursteilnehmer durch den Prozeß der "Besprechung" die Bedeutung des Topics inhaltlich kontinuierlich fortschreiben und sich wiedervergewissern.

Im HipHop hat diese Funktion das Sampling des DJ.
Diedrich Dieterichsen charakterisiert das Folgendermaßen: "Die bezeichnenden und verweisenden Elemente von HipHop (...) denken sich selbst als Fragmente und Zeugen einer urspruenglichen Einheit". "Die Behauptung (besteht) (...) darin, jene urspruengliche Einheit vor der diasporischen Zerstreuung in der Gegenwart aus dem Zusammenfuehren aller moeglichen lokalen Black Music zu einer neuen virtuellen Einheit, die die disparaten Strahlen aus der Vergangenheit im HipHop-Track buendelt, vorzufuehren. (...). 8

Der HipHop aktualisiert also im Zitat, im Sampling pathetisch die Idee der "black nation" 9. Bzw. in der weltweiten Jugendkultur zum Stereotyp, zur Attitüde trivialisiert, übernimmt das Sampling die Vermittlungsfunktion, die Verständigung auf eine gemeinsame Rezeptionsgeschichte. Dietrich Dietrichsen: "Die Beziehung von Sampling zu tribalistischen Organsiationsformen, die man natuerlich auch in anderen jugendkulturellen Szenen findet, wird natuerlich auch dadurch so leicht uebernommen und verstaerkt wiederholt, weil nun nicht nur die Kenntnis, sondern das Besitzen oder mindestens Verfuegen ueber bestimmte Platten zum Kriterium des Dazugehoerens wird." 10

Und auf dieser musikalischen Verständigungsfolie erhebt sich nun das, wie Dietrichesen es nennt "rein Literarische" Solo eines oder mehrerer Rapper.

Ich fasse nochmals zusammen.
Wichtige Strukturformen des Internets sind Dialogprozesse, die durch Themen oder Topics gebündelt werden und auch hier "tribalistische" Strukturen schaffen.
Im HipHop übernimmt das Sampling diese Funktion und eint eine Szene durch die Verständigung auf eine gemeinsame Rezeptionsgeschichte als "Mechanismus der Sinnkonstruktion" 11 .

Und auf dieser Folie entwickelt der Autor, der Rapper, seine Text-Lyrik, in der Regel geschöpft aus seiner Erlebniswelt.
Bastian Böttcher: "Rap-Texte (sind) Lyrik! Man sollte nur über Dinge rappen, die einen selbst was angehen. Bei europäischen Rappern klingt dieses Ghetto-Gangster-Frasen-Gefasel einfach unecht und peinlich." 12
Kurz  "Credibility", wie das so schön heißt, ist erwünscht. Und soviel nur angedeutet, ohne es hier ausführen zu können, das Konzept des Rap-Autors steht sicherlich dem Storyteller, dem afrikanischen Griot näher, als dem traditionellen Autorbild unserer Schriftkultur und auch im Internet scheint die scharfe Trennung zwischen traditioneller Oralität und moderner Literalität brüchig zu werden.

Hat das alles etwas Internet-Literatur zu tun?
Ich denke durchaus. Zumindest für einige erfolgreiche Beispiele auf die ich kurz und holzschnitthaft eingehen möchte.

Olia Lialia arbeitet in ihrer Bildergeschichte "My boyfriend came back from the war" 13 genau auf diese Weise. Die verwendeten Bilder sind aus dem Hollywood-Film "Broken Arrow" "gesamplet" 14 (wobei interessanter Weise, das macht ein Interview von Tilman Baumgärtel  deutlich, alle Rezipienten, die die Genese der Bilder im Familienalbum der Autorin vermuten, bei der "Lektüre" scheitern  15). Außerdem funktioniert das Klischee "My boyfriend came back from the war" als Topic, als vertrauter (wenn nicht selbst erlebt, so vielfach medial angeeigneter) Assoziationraum für den Leser. Und auf dieser Verständigungsbasis "rappt" Olia Lialia, entwickelt ihre narrative Strategie.

Ähnlich bei "Anna Karenin goes to paradies" 16. Hier covert die Autorin im Titel Tolstois "Anna Karenina" und Jim Jarmuschs Roadmovie "Stranger than Paradise". Und verstrickt auf dieser Folie den Leser in eine Irrfahrt im Cyberspace.

Oder die Gewinner des Pegasus98 Dirk Günther und Frank Klötgen.
In "Die Aaleskorte der Ölig" 17 scheint der Topic "Drehbuchschreiben" zu sein. Doch aktualisiert sich bei mir durch den "Aal" und die Drehbuch-Metapher sofort die berühmt-berüchtigte Aalszene aus der Blechtrommelverfilmung (auch haben wir hier wie dort den kindlichen Erzähler) und damit als mediales Stereotyp der bedeutungsschwere deutsche Autorenfilm. Auf diesem Background scheint mir u.a. die - wie es Susanne Berkenheger in ihrer Laudatio nennt - "abenteuerlich-ironischer Symbolik und kruden Szenerien" 18 der Bilder und Texte zu funktionieren.

Ebenso das TanGo -Projekt:
Martina Kieninger hat 1996 zum Tango - dem Mitschreibeprojekt zwischen spanisch - schwäbisch und zurück eingeladen. Auf Servern in Montevideo, Stuttgart und München wurde ein Matrix  aufgespannt und die Beiträge eingewoben 19.

Aus Martina Kieningers Projektbeschreibung:
"Tanz den Cybertango. Nix is neu. 100 Jahre alte Moderne und ein Fin de siecle. The virtual city that never sleeps. Morgens Tango abends Fango, da haengt der Kurschatten voll Geigen. Und? Was machen wir jetzt? Einen Tango zelebrieren. Einen Walzer einfangen. Man schenkt sich Rosen in Tirol. Das ist doch kein Tanz mehr. Weisst Du was das bedeuten soll. Geh von meinen Fuessen runter. Auf spielerische Weise wird das Bewegungsverhalten fruehzeitig in richtige Bahnen gelenkt, um Haltungsschaeden vorzubeugen. Eine Werbung machen. Kuess die Hand, gnaedige Frau." 20

Was hier aufgefächert wird, ist bunter Strauß von Assoziationen und neu montierten Stereotypen, was genau dem Funktionsprinzip dieses Projektes entspricht.

Tango löst Assoziationen aus, ist stereotypisch hoch aufgeladen ("Emotion, Leidenschaft, Verbrechen, Dekadenz..."), kurz, Tango ist ein idealer "Topic", polyphon und vielseitig ausgestaltbar von den Teilnehmenden.
Und ich denke genau aus diesem Grund ist dieses Projekt erfolgreich.

Abschließend noch kurz  ein "Negativ"-Beispiel.
Der Internet-Roman Spielzeugland 21 scheitert meines Erachtens als kollaboratives Schreibprojekt. Und zwar genau deshalb, weil der als Topic verstehbare Titel keine Verständigungsbasis schafft. Er erinnert nichts, schafft kein Beziehungsgeflecht fordert nichts heraus und lädt daher die Autoren nur zu einem beliebigen "Spiel" ein, das sich, da vollkommen offen, im Sinnlosen verlieren muß.

 



Anmerkungen || Links zur Hyperfiction//Netzliteratur
 

1 Benjamin Whooley: New Media-Worlds. London 1992, S.165.
2 Zitiert nach: Seminar "Kollaborative Autorschaft". Lehreinheit 5: Zur Definition von Autorschaft in den Netzen. http://userpage.fu-berlin.de/~epos/VC/autor/seml5.html#FN12
3  Uwe Wirth: Literatur im Internet. Oder. Wen kümmert's wer liest?
http://www.rz.uni-frankfurt.de/~wirth/texte/litim.htm
4 DJ Spooky the subliminal Kid
http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/musik/3230/1.html

5 Cordt Schnibben: Die Party-Partei. In: DER SPIEGEL, 29/1996, S. 93.
6 Bernd Wingert: "Kann man Hypertexte lesen?" In: Literatur im Informationszeitalter, hrsg. von Dirk Matejovski und Friedrich Kittler, Frankfurt/Main u.a. 1996, S. 202.
6a  Uwe Wirth: Literatur im Internet. Oder. Wen kümmert's wer liest?
http://www.rz.uni-frankfurt.de/~wirth/texte/litim.htm
7  Heinz Moser: Die Ohnmacht des Autors im Netz.
http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/2141/1.html
8 Diedrich Diederichsen: Hoeren, Wiederhoeren, Zitieren.
 http://www.goethe.de/techno/GE/dd3.htm
9 Diedrich Diederichsen: Technologie und Pop-Musik
http://www.goethe.de/techno/GE/dd2.htm
10 ebenda
11 ebenda
12 Zentrifugal - Bandinfo
http://www.uni-weimar.de/~boettch1/bandinf.html
13 Olia Lialina: My boyfriend came back from the war.
http://www.teleportacia.org/war/
14 Tilman Baumgärtel: Interview mit Olia Lialina.
http://www.heise.de/tp/deutsch/special/ku/6146/1.html
15 Tilman Baumgärtel: Interview mit Olia Lialina.
http://www.heise.de/tp/deutsch/special/ku/6146/1.html
16 Olia Lialina: Anna Karenin goes to paradies.
http://www.teleportacia.org/anna/
17 Dirk Günther und Frank Klötgen: "Die Aaleskorte der Ölig"
http://www.internetkrimi.de/aaleskorte/Pegasus98/index.htm
18 Susanne Berkenheger: Laudatio zum Pegasus 98. http://web.archive.org/web/19990418061439ws_13/www.pegasus98.de/laudatio.htm
19  http://www.textgalerie.de/tango/
20 http://www.textgalerie.de/tango/s/warum.htm
21 Spielzeugland http://www-public.rz.uni-duesseldorf.de/~karlowsk/spiel.html



Links zur Hyperfiction//Netzliteratur

Theorie Hyperfiction - Liste mit deutschsprachigen Essays zum Thema Hyperfiction

Hyperfiction//Netzliteratur
- Sammlung der wichtigsten deutschsprachigen Projekte

Stuttgarter Netzliteratur//Netzkunst-Projekte

Kommentierte Links zu Hypertext und Hyperfiction - Johannes Auer, Beat Suter


Screaming Screen and Binary Idealism - Johannes Auer [9/2001]
Stuttgarter Gruppe und Netzprojekte - Interview, dichtung-digital [2001]
Text - Bild - Screen // Netztext - Netzkunst
- Reinhard Döhl, Johannes Auer [2001]
7 Thesen zur Netzliteratur - Johannes Auer [2000]
Lesen und Schreiben im Internet - Johannes Auer [1997]




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