Reinhard Döhl:
Und Minchen nahm den Strickstrumpf wieder auf.


4.12.1999

Mit diesem Satz endet eine letzte, erst aus dem Nachlaß veröffentlichte Erzählprosa Wilhelm Raabes. Man hat lange angenommen, dieser Satz markiere Raabes "Altershausen" als Fragment. Inzwischen sind wir uns ziemlich sicher, daß Raabe hier den Punkt gesetzt hat für den Text als ein offenes Zitier- und Verweissystem in einem Schreibverfahren, dessen Struktur sich immer deutlicher der Collage annäherte, in einer Tradition, auf die ich hier nicht weiter eingehen will.

- [Context: Freud (kulturgeschichtliche Gleichzeitigkeiten)] In meinem Referat möchte ich dagegen die Frage nach einer Literatur im Netz, die anschließend auf dem Podium zu verhandeln ist, auf zweifache Weise angehen.
  • Einmal, in dem ich diese Frage in den Context der elektronischen Medien, elektronischer Aufschreibsysteme stelle. So neu, wie sich das Problem in den zahlreichen, oft selbstgenügsamen Diskussionsforen darstellt, sind die Probleme nämlich gar nicht. Was bedingt neu ist, ist lediglich die Syntax, der sich ein potentieller Netzautor bedienen muß.
  • Danach werde ich auf der Basis von Experimenten, die Johannes Auer und ich veranstaltet haben, versuchen, der anschließenden Diskussion vielleicht ein paar Stichworte zu geben. Ich spreche also im folgenden für Joahannes Auer mit.
Das Internet und seine Schreibmaschine, der Computer gehören zu den elektronischen Medien, also zu Film, Funk und Fernsehen, die sie, der Hypothese nach, eines Tages synthetisieren werden. Das ist also im Context und bei der Frage nach einer Netzliteratur mitzubedenken

Alle drei (also Film, Funk und Fernsehen) zeichnen sich dadurch aus,

  • daß sie bei Entstehung und endgültiger Präsentation des Textes einer technischen Apparatur bedürfen
  • daß der Autortext eine zusätzliche (technische) Syntax verlangt und
  • daß der Autor beim Zustandekommen eines Textes (dies im weitesten Sinne) der Mitwirkung bedarf: des Regisseurs (Dirigenten) und Technikers oder Operateurs, konkret des Kameramanns, des Mannes am Mischpult etc. Diese können dabei die ursprünglichen Autorintentionen durchaus verfehlen. Was Autoren wiederholt veranlaßt hat, diese Mitarbeiterfunktionen wenigstens zum Teil selbst zu übernehmen.
Wenn ich als Autor, referierte zum Beispiel Paul Pörtner 1968, von der Literatur herkommend, mich dem Hörspiel zuwende, habe ich es nicht nur mit einem Medium zu tun, das Literatur vermitteln kann, sondern mit einer Produktionsmöglichkeit von akustisch-poetischen Spielen. Ich vertausche den Schreibtisch des Autors mit dem Sitz am Mischpult des Toningenieurs, meine neue Syntax ist der Schnitt, meine Aufzeichnung wird über Mikrophone, Aufnahmegeräte, Steuerungen, Filter auf Band vorgenommen, die Montage macht aus vielen hundert Partikeln das Spielwerk.

Meine These: Auch der Netzautor holt sich Kompetenzen zurück, bündelt sie als Programmierer, Operateur, Dirigent, der seinen Text verwaltet, und unterscheidet sich schon dadurch vom traditionellen Printautor, der lediglich ein abgeschlossenes Manuskript abzuliefern hatte, vom Film- oder Hörspielautor, der - wenn er nicht nur die Vorlage lieferte - ein Drehbuch abzuliefern hatte.

Bevor ich hier auf die Frage des Netzautors, das Postulat vom Tod des (traditionellen) Autors, eine These, die bereits in den 60er Jahre im Umkreis des Noveaux Roman und damit in einem ganz anderen Zusammenhang diskutiert wurde -

Bevor ich hier auf das Postulat vom Verschwinden des Autors im Internet weiter eingehe, sei mir noch eine Vorgabe erlaubt. Alle bisherigen Untersuchungen zur Geschichte der elektronischen Medien haben ergeben - vor dem Hintergrund übrigens, daß die Medien Funk und Internet ursprünglich für ganz andere als künstlerische Bedürfnisse entwickelt wurden -

  • daß die Möglichkeiten der neuen Aufschreibsysteme für die geschriebene Literatur allenfalls bedingt geeignet waren, daß adaptierte Literatur zum Beispiel noch keine genuine Radiokunst war. (Beispiel: "Wallensteins Lager" im Berliner Funkhaus in historischen Kostümen, Regie Max Reinhardt.)
  • daß andererseits theoretisch Vorgaben gemacht wurden, die sich technisch/praktisch erst (und oft sogar viel) später einlösen ließen.
1924 zum Beispiel konnte sich bereits Kurt Weill "sehr gut vorstellen", "daß zu den Tönen und Rhythmen der Musik neue Klänge hinzutreten würden, Klänge aus anderen Sphären: Rufe menschlicher und tierischer Stimmen, Naturstimmen, Rauschen von Winden, Wasser, Bäumen und dann ein Meer neuer unerhörter Geräusche, die das Mikrophon auf künstlichem Wege erzeugen könnte, wenn Klangwellen übereinandergeschichtet oder ineinander verwoben, verweht und neugeboren werden würden".

[Weiteres Beispiel: 1928 geht der Rundfunkintendant Hans Flesch von der Möglichkeit aus, "daß neben der Vermittlertätigkeit des Rundfunks auch ein eigener Kunstausdruck im musikalischen Sinne zustande kommt. Wir können uns heute noch keinen Begriff machen, wie diese noch ungeborene Schöpfung aussehen kann. Vielleicht ist der Ausdruck 'Musik' dafür gar nicht richtig. Vielleicht wird einmal aus der Eigenart der elektrischen Schwingungen, aus ihrem Umwandlungsprozeß in ankustische Wellen etwas Neues geschaffen, das wohl mit Tönen, aber nichts mit Musik zu tun hat; ebenso wie wir davon überzeugt sind, daß das Hörspiel werde Theaterstück, noch Novelle, noch Epos, noch Lyrik sein wird."]

Was Weill [was Flesch] hier als eine (absolute) Radiokunst vorschwebte, realisierte sich nämlich erst nach 1945 im "Studio" bzw. im "Club d'Essay" des Französischen Rundfunks bei Entwicklung einer musique concrète durch Pierre Schaeffer, bzw. im Mailänder Studio und den Studios des Westdeutschen Rundfunk bei den ersten Experimenten mit elektronischer Musik.

Für den Funk, wo ich mich am besten auskenne, wobei ich mir im Vorbeigehen die Frage erlaube, warum ausgerechnet der Funk und sein Autor auf diesem Kongreß so auffallend ausgespart wurden? -

Für den Funk ließe sich das so zuspitzen:

  • Der Rundfunk wurde nicht entwickelt. weil eine Notwendigkeit dazu bestand. Er ist innerhalb der Entwicklung der elektronischen Nachrichtenmittel [...] ein Nebenprodukt dieser Entwicklung.
  • Die Industrie. die ihn entwickelte, wollte ihr Nebenprodukt natürlich gewinnbringend verkaufen und mußte, da kein notwendiges Bedürfnis bestand. den Markt erst einmal schaffen und erschließen.
  • Sie tat dies auf zweierlei Weise. Einmal, indem sie die Bastelleidenschaft potentieller Hörer ansprach, also den Reiz eines neuen technischen Spielzeugs nutzte. Zum anderen, indem sie Programme erstellen und senden ließ, die den Hörer bei der Stange des neuen Mediums halten, die dem Rundfunk aber auch und vor allem immer mehr Hörer und neue Hörerschichten zuführen sollten.
  • Diese Programme waren es, auf die sich ein Autor neben anderen nichtliterarischen Bedingungen einlassen mußte, wollte er eine Radiokunst schaffen, die ihren Namen wirklich verdiente.
Für die Literatur bedeutete dies,
  • daß sich der Rundfunk den Autor erst einmal ins Funkhaus einladen und
  • daß sich dieser Autor, so er die Einladung überhaupt annahm, erst einmal auf das neue Medium (Technik und Programm) einlassen mußte.
Einer, der dies fast beispielhaft getan hat, war Alfred Döblin, der sich
  • seinen ersten Radioempfänger selber bastelte und der
  • als Großepiker auf einem ersten Treffen von Dichtern und Rundfunkleuten 1929 betonte:
Das akustische Instrument Rundfunk vermittle seiner Natur nach Töne und Geräusche. Da ist ungleich wichtiger als die Literaturvermittlung für ihn die Verbreitung von Musik. Warum die Musik? Das folgt einmal aus dem riesigen Umfang der Hörermasse. Die Musik ist einfach universeller als die Literatur, allgemein leichter verständlich, und darum ist sie die gegebene Kunst des Rundfunks [!, R.D.]. Neben die Musik tritt dann als wichtiges Gebiet des Rundfunks die Nachrichtenverbreitung, die Journalistik, die gesprochene Tageszeitung. Daß der Rundfunk am schnellsten Nachrichten übermittelt und sie auch rasch ausmünzen kann, sichert diesem Instrument einen ganz besonderen Platz unter den Verbreitungs- und Wirkungsmitteln. Ich möchte glauben, wir tun nicht unrecht, wenn wir sagen: erst an dritter Stelle kommt das Gebiet [...] der geformten Sprache, der Literatur.

Und an späterer Stelle seines Referats: Es ist mir sicher, daß nur auf ganz freie Weise, unter Benutzung lyrischer und epischer Elemente, auch essayistischer, in Zukunft wirkliche Hörspiele möglich werden, die sich zugleich die anderen Möglichkeiten des Rundfunks, Musik und Geräusche, für ihre Zwecke nutzbar machen(3).

1968 hat Helmut Heißenbüttel auf der "Internationalen Hörspieltagung" in Frankfurt in einem "Horoskop des Hörspiels" diese Rangfolge Döblins bestätigt, als er dem Hörspiel, das er als Hörsensation begriff, zwei Grenzpole zuwies, die pure Nachricht auf der einen und die musikalische Sublimation des Sprachlichen auf der anderen Seite.

Abstrakt formuliert: Jeder, der sich mit der Entwicklung und Geschichte einer Radiokunst beschäftigen will, wird davon ausgehen müssen, daß zwischen der technischen Apparatur (Mikrophon-Kanal-Lautsprecher), den Programmmachern (Sender) und den Programmempfängern (den Hörern) Beziehungen, Wechselverhältnisse bestehen, die stets mitzubedenken sind.

Noch einmal anders und zugleich als These für das Podium zugespitzt: die technische Apparatur, die Rechenmaschine ist das Medium, an dem sich der Netzautor und der Internetnutzer treffen und deren Bedingungen sie zu berücksichtigen haben.

Angesichts der Heterogenität des Internetangebots, dem ich heute praktisch alles und nichts entnehmen kann, bringt mich ein letztes Zitat Döblins, dessen Collage-Epos "Berlin Alexanderplatz" ja ein ganzes Medienpaket geschnürt hat, zur Autorfrage zurück, indem ich einen Blick auf das im Schiller-National-Museum in Marbach in fünf Mappen aufbewahrte Konvolut der ersten zusammenhängenden Niederschrift werfe: eine im Grunde genommen synthetische Collage.

In schwer leserlicher Handschrift beschrieben, enthalten die [in der Regel] Oktavbogen des Manuskripts zahlreiche eingeklebte oder mit Büroklammern befestigte Supplementzettel, eine eingeklebte Ansichtskarte des Weltreisenden Johann Kirbach (eine reale Kontrastfigur zu dem ausschließlich um den Alexanderplatz kreisenden fiktiven Franz Biberkopf). Sie enthalten einen Patientenbrief, ein Mädchentagebuch, Ausschnitte von Wetterberichten, Zeitungsausschnitte u.a. über den Berliner Fremdenverkehr, politische Zeitungskommentare, Ausschnitte aus einem Berliner Amtsblatt, einem Lesbierinnen-Roman, der Gärtnerecke einer Zeitung und vieles andere mehr, eine Welt also in heterogenen Fragmenten, die der Autor zu einer neuen, ästhetischen Welt zusammengefügt hat, angesichts derer es Aufgabe des Lesers ist, das Nacheinander dieser Elemente im Akt des Lesens sich nebeneinander und ineinander zu fügen zu einem vielschichtig polyphonen und polyperspektivischen Ganzen.

Dabei hat Döblin die auch für unser Podium aktuelle Frage, ob es auf den Autor überhaupt noch ankomme, da ja der Leser den Text herstelle, für den Autor längst beantwortet, als er angesichts der Fülle seines Materials, das er als Dokumente unverfälschten Lebens begriff, anmerkte: das sei alles so herrlich und [in] seine[r] Mitteilung so episch, daß er selbst gänzlich überflüssig dabei sei.

Stimmt meine These, daß sich im Medium der Apparatur Internetnutzer und Netzautor treffen, müssen sich Autor und Leser auf die Syntax dieses Medium einlassen. Und das heißt auf programmgesteuerte, elektronische Rechenanlagen, die ursprünglich [...] für die Bedürfnisse der praktischen Mathematik und der rechnenden Technik entwickelt wurden aber darüber hinaus eine Vielfalt der Anwendungsmöglichkeiten boten und bieten. Für die Benutzer derartiger Rechenanlagen, in diesem Fall den Autor ist es nicht entscheidend, was die Maschine tut, wichtig [...] allein ist, wie er die Funktion der Maschine interpretiert.

Als wir uns 1959/1960 in Stuttgart daran machten, mit Hilfe der Großrechenanlage ZUSE Z 22 "Stochastische Texte" herzustellen, interpretierten wir wissenschaftlich, indem wir mit Hilfe einer elektronischen Rechenanlage Häufigkeitswörterbücher herstellten und für exakte statistische und ästhetische Textanalysen nutzten; wir interpretierten aber auch aesthetisch, indem wir das Verfahren der Herstellung von Wortindices praktisch umkehrten und die Rechenanlage anwiesen, mit Hilfe eines eingegebenen Lexikons und einer Anzahl von syntaktischen Regeln Texte zu synthetisieren und auszugeben.

Eine frühes (erstes?) Programm von Theo Lutz aus dem Jahre 1959, das aus circa 200 Befehlen bestand, brachte aus heutiger Sicht zwar noch kein aufregendes Ergebnis, hatte aber für uns den Wert einer Inkunabal "künstlicher Poesie", die Max Bense kurze Zeit später theoretisch von der "natürlichen Poesie" unterschied, wobei sich - was die Sache besondes aufregend machte - eine Begriffspaar aus dem "Allgemeinen Brouillon" des Novalis in seiner Bedeutung geradezu umkehrte, aber auch ein Prospekt Guilleaume Apollinaires Brisanz gewann, der in seinen "Poésies" erklärt hatte:

Die Zeiten der persönlichen Dichtkunst mit ihren relativen Taschenspielereien und zufälligen Verdrehungen sind vorüber. Nehmen wir den unzerstörbaren Faden der unpersönlichen Dichtkunst [= littérature impersonelle, R.D.] wieder auf,

und in "L'Esprit nouveau et les Poètes" aus dem Jahre 1918, der gelegentlich auch als Testament Apollinaires bezeichnet wurde, die Prognose wagte:

Es wäre sonderbar gewesen, wenn die Dichter in einer Zeit, da die Volkskunst schlechthin das Kino, ein Bilderbuch ist, nicht versucht hätten, für die nachdenklicheren und feineren Geister, die sich keineswegs mit den groben Vorstellungen der Filmproduzenten zufrieden geben, Bilder zu komponieren. Jene Vorstellungen werden sich verfeinern, und schon kann man den Tag voraussehen, an dem die Dichter, da Phonograph und Kino die einzigen gebräuchlichen Ausdrucksformen geworden sind, eine bislang unbekannte Freiheit genießen werden. Man wundere sich daher nicht, wenn sie sich, mit den einzigen Mitteln, über die sie noch verfügen, auf diese neue Kunst vorzubereiten versuchen, die viel umfassender ist als die einfache Kunst der Wörter und bei der sie als Dirigenten eines Orchesters von unerhörter Spannweite die ganze Welt, ihre Geräusche und Erscheinungsformen, das Denken und die Sprache des Menschen, den Gesang, den Tanz, alle Künste und alle Künstlichkeiten und mehr Spiegelungen, als die Fee Morgana auf dem Berge Dschebel hervorzuzaubern wußte, zu ihrer Verfügung haben werden, um das sichtbare und hörbare Buch der Zukunft zu erschaffen.[Beide Zitate in der Übersetzung Ré Soupaults.]

Diese Forderung einer unpersönlichen Poesie, dieser Prospekt eines infolge der neuen Medien cinéma und phonographe zu schaffenden sichtbaren und hörbaren Buches der Zukunft formulieren zentrale ästhetische Vorgaben für die Künste des 20. Jahrhunderts, die sich durch eine Tendenz zum Dialog der Künstler und Künste untereinander, zu einer dialogischen Kunst auch mit dem Leser auszeichnen.

Da sie offensichtlich sind, muß ich die zahlreichen sich hier andeutenden Parallelen nicht Schritt für Schritt auf eine Netzliteratur, die ja zur Diskussion steht, übertragen. Ich wende mich deshalb auf der Basis von Experimenten, die Johannes Auer und ich gemacht haben, direkt der Frage "Literatur im Internet" zu und unterscheide dabei zunächst zwischen

Netztext und Text im Netz.

Natürlich kann ich heute Texte typographisch mehr oder weniger geglückt in den PC eingeben und ins Netz stellen. Dann benutze ich, wie viele Internetnutzer, den PC und das Netz reproduktiv als Vervielfältigungsmaschine und bilde mir möglicherweise sogar noch ein, nun weltweit wahrgenommen zu werden.

Bei diesen Texten trennt - negativ - der direkte Zugang des Autors zum Netz nicht mehr die Spreu vom Weizen , läßt aber andererseits - positiv und unambitioniert - auch Texte zu, die dem Sachunverstand der Lektorate zum Opfer fallen könnten. Ich möchte diese Texte als Texte im Netz bezeichnen und sie den traditionellen Privatdrucken vergleichen.

Daß es für diese Art elektronischer Veröffentlichung ein Bedürfnis gibt, wäre vielleicht daran abzulesen, daß auf Gedichte im Netz inzwischen häufiger zugegriffen wird als Gedichtbände gekauft oder ausgeliehen werden. Von diesen im Netz lediglich veröffentlichten Texten möchte ich Texte unterscheiden, die nicht für das Netz geschrieben aber für eine Realisierung im Netz geeignet sind, z.B. die visuellen und akustischen Textexperimente nicht nur der konkreten Poesie, wie wir sie insbesondere in den 50er und 60er Jahren praktisch und theoretisch in der Stuttgarter Gruppe/Schule um Max Bense erprobt haben. Sie lassen sich nach Johannes Auers und meinen Erfahrungen nicht nur im neuen Medium fortführen, sondern scheinen sogar - als Beispiel nenne ich die Permutation wie jede Art von Textaleatorik - für diese Realisierungsmöglichkeit geradezu prädestiniert, ob nun als reine Hypertextstruktur, als animiertes GIF, als Java-Applet oder Skript, die Möglichkeiten sind hier bei weitem noch nicht ausgeschöpft, neue (technische) Möglichkeiten werden hinzukommen. [Auer]

Erst wenn Bedingungen des Internets, als deren wichtigste ich den Link nenne, den Text contextuieren, also von einem Text zu einem anderen Text Verbindungen herstellen, beginnen die Möglichkeiten des Internets und seiner Schreibmachine produktiv zu werden, ensteht eine einfache Form eines Netztextes, die in dem Maße komplexer wird, in dem für den freilich gesteuerten Leser die Auswahl möglicher Verbindungen zunimmt oder ihm - durch Zufallsgeneratoren - eine ständig sich neu generierende, instabile Welt aus Texten zur Verfügung gestellt wird.

Solche Hypertexte ohne Bild, Ton, Animationen etc. im Sinne der von Michael Joyce und anderen entwickelten Hyperfiction zeichnen sich durch eine häufig recht komplexe, oft nicht-lineare Struktur aus und stellen inzwischen eine etablierte Kunstform des Internets dar, zu der allerdings zweierlei anzumerken wäre.

  • Erstens im Sinne von Bernd Wingert eine Aufmerksamkeitsverschiebung des Lesers vom Text zum Sprung, mit den Worten Johannes Auers die Gefahr einer hypertextuellen Zapp-Mentalität, die Wingert zurecht als die zentrifugalen Kräfte bei der Hypertext-Lektüre charakterisiert.
  • Anzumerken wäre zweitens eine Diskrepanz von Theorie und Praxis, weil sich die theoretischen Ansprüche an diese neue Schreibform wie Aufhebung von Linearität , radikale Einbeziehung des Rezipienten ("der Text entsteht bei jedem Lesen je neu") [...] ästhetisch schnell erschöpfen, wenn Hypertextstrukturen dem traditionellen Erzählen verpflichtet bleiben. [Auer]
Multimediale scriptgesteuerte Netzwerke mit gleichen oder aussagebestimmt wechselnden Anteilen an Text, Bild, Ton, Animation - also ein multimediales Gesamtkunstwerk ist bei den noch bestehenden technischen Beschränktheiten des Netzes und seiner Schreibmaschine Utopie, allenfalls in Ansätzen vorhanden, für die Zukunft allerdings vorstellbar in Richtung einer Medienkunst, auf die ich am Schluß noch einmal zu sprechen kommen werde.

Interaktivität

Es liegt im Willen des im Internet veröffentlichenden Autors, wie weit er dabei dem Leser bei der Lektüre freie Hand geben will, was für mich die Frage nach der vielbeschworenen Interaktivität, die ich lieber Dialog nennen würde, einschließt. Ich gebe drei Stuttgarter Beispiele:

1. Das "Poet's corner'le als eine offene und variable Anthologie,

  • offen, weil die Texte ständig um neue ergänzt und gegebenenfalls vernetzt werden können
  • variabel, weil die eingegebenen Texte jederzeit auf Wunsch der Autoren, der Leser oder der Herausgeber ausgetauscht werden können und sollen
  • interaktiv, weil ein Dialog zwischen Leser und Text stattfindet.
2. Die "Kettenmailsausderbadewanne" als ein Textunternehmen zu e-mail-Bedingungen
  • in ihnen findet der Dialog zwischen einem Ausgangstext und einem Leser/Autor statt, der mit seinem Text auf die Vorlage reagiert und seine Version einem weiteren Leser/Autor zur Reaktion und Redaktion überläßt der undsoweiter.
Ich möchte hier einschieben, daß mich bei vielen Hervorbringungen im Internet ein Mißverhältnis von Text und Präsentation irritiert, worin ich eine Neuauflage der sattsam bekannten FormInhaltDiskrepanz sehe. Links etwa bei Hypertexten haben auf der Bedeutungsebene oft nichts mit dem Text, von dem sie ausgehen, und dem Text, den sie aufrufen, zu tun, sondern scheinen nach der Regel link dich, oder ich freß dich gesetzt. Bei den auf Autordialog abgestellten "KettenmailsausderBadewanne" ist diese Gefahr durch die schlichte und ehrliche e-mail-Struktur, die fast ohne Links auskommt, vermieden worden.

Desgleichen bei unserem die Tradition des Kettengedichts, des Renga / Renku / Renshi aufgreifenden "Poem chess" durch ein den Autoren vorgegebenes thematisches Raster.

  • Das "Poem chess" ist diologisch und international (Schwäbisch, Deutsch, Französisch, Tschechisch, Russisch, Japanisch, Türkisch und Englisch).
  • Zwischen den Dialogen seiner Autoren stellt der LeserAlsSchachspieler mit seinen den Regeln entsprechenden Zügen weitere mehrsprachige Dialoge und damit seinen multilingualeText her.
  • Daß ergibt praktisch zwei sich überschneidende Dialoge,
- einen ersten Autordialog, der das Grundtextgerüst des Schachspiels erst hergestellt hat und der sich aus 8 Kettengedichten zusammensetzt,

- und einen zweiten zwischen diesem Grundtext und dem Leser, der variabel nach den Regeln des Spiels sich seine Texte herausliest.

  • Daß dieses Unternehmen Marcel Duchamp gewidmet ist, versteht sich beinahe von selbst.
Das alles mag etwas betulich klingen, was wir vielleicht im württembergischen Stuttgart auch sind. Das Zentrum für Kunst und Medientechnologie, ZKM, befindet sich jedenfalls im Badischen Karlsruhe. Unsere Stuttgarter Experimente arbeiten bewußt nicht mit technischem Overkill, sondern sie nutzen, um dies noch einmal zusammenzufassen, die grundlegenden Möglichkeiten von Computer und Netz.
  • Das "Poet's corner'le", indem es Texte im Netz zu einer offenen, variablen Anthologie versammelt, die freilich nur im Netz so möglich ist.
  • Die "kettenmailsausderbadewanne", indem sie mit der Kommunikationsform der e-mail und der Computersyntax copy, cut und paste spielen.
  • Und das "poem chess" schließlich, indem es, freilich nicht narrativ, mit Hyperlinks arbeitet, die als Schachspiel visualisiert sind.
Auch sind das "Poet's corner'le", die "KettenmailausderBadewanne" und das "Poem chess" überwiegend nicht von Programmierern gemacht, sondern von (Print)Autoren, freilich für eine Umsetzung und Nutzung im Netz, geschrieben. Keiner von ihnen, obwohl einige von ihnen der Programmiersprache ALGOL [Kunstwort aus algorithmic language] ansatzweise mächtig wären, würde sich für einen Algorithmus, einen nach einem bestimmten Schema ablaufenden Rechenvorgang halten. Ich polemisiere hier ein wenig gegen die ernsthaft vorgetragene Annahme des Autors als Algorithmus. Wieweit diese Autoren des "Poemchess" und anderer hier nicht genannter Stuttgarter Internetprojekte über ein Fasziniertsein von Verflechtung und Netzwerk hinaus in letzter Konsequenz verstanden haben, wie man das Spiel spielt und rezipiert, wäre natürlich zu fragen.

Hier geht Susanne Berkenheger nicht erst bei ihrem Experiment "Hilfe" einen Schritt weiter und davon aus, dass im internet jeder lesevorgang seine spuren hinterlaesst. im gegensatz zu fernsehen, print, radio etc., fliessen die informationen im internet *immer* in zwei richtungen. dadurch hat fiction im internet auch eine naehe zu direkten darstellungsarten wie theater. zumindest koennte sie das haben, wenn die spuren denn gelesen werden, vom programm. das heisst, der internetautor muss das natuerlich vorsehen.
jedenfalls mit dieser leserspur (rezeptionsspur), die das - wie gesagt meiner meinung nach das alles entscheidende novum des im internet moeglichen ausmacht - sollte internetliteratur arbeiten, auf sie reagieren, beziehungsweise eine art maschine sein, die darauf reagiert.
verflechtung, netzwerk, diese uralten ideen, ist Susanne Berkenheger überzeugt, beleuchten nur die oberflaeche, feiern [...] einen truegerischen schein vom befreiten leser im internet, vom tod des autors, vom fluechtigen textgewebe [...]
mag sein, dass der autor stirbt, aber in derselben sekunde noch steht er wieder auf als manipulator, der im hintergrund die faeden zieht.
mag sein, dass texte von festplatten fluechten koennen, der lesevorgang jedenfalls, die rezeption, die bislang das fluechtigste, intimste war, die hinterlaesst ploetzlich spuren, und kein leser, weiss je, wie viele.
der witz dabei ist, dass ich dadurch als autor eine art dialog inszenieren kann, ich kann den text so programmieren, dass er darauf reagiert, wie er jeweils gelesen wird, vision: eine art ki-fiction.

Die(se) Idee, einen Dialog zu inszenieren, spukte nun freilich schon in den Köpfen von Hörspieltheoretikern herum. Und die in der Regel kommerziell reproduktive, künstlerisch aber auch produktive Nutzungsmöglichkeit der neuen Medien ist ein altes Problem, für dessen Skizze ich noch einmal in die 20er Jahre zurückkehren muß.

Die ersten Programme des Radios hatte Bertolt Brecht in einer undatierten Notiz - "Radio - eine vorsintflutliche Erfindung?" - als kolossalen Triumph der Technik ironisiert, der es ermögliche, nunmehr einen Wiener Walzer und ein Küchenrezept endlich der ganzen Welt zugänglich machen zu können. Solle die Erfindung wirklich Sinn haben, müsse das Radio produktiv gemacht werden.

  • Einmal durch das Entwickeln einer Literatur ausschließlich zu den Bedingungen des neuen Mediums, des Hörspiels.
Dieser erste Schritt eines solchen Produktivmachens ist, wie die Geschichte des Hörspiels nachdrücklich belegt, durchaus geglückt, wenn auch offensichtlich das Hörspiel nicht ganz bei der Stange bleiben will, wie erst jetzt wieder die Woche des Hörspiels in Berlin ersichtlich machte.
  • Zweitens sei das Radio produktiv zu machen durch seine Verwandlung aus einem Distributionsapparat, der lediglich zuteile, in einen Kommunikationsapparat, der den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen lasse, ihn nicht isoliere, sondern in Beziehung setze.
Dieser zweite Schritt wollte allerdings, trotz immer wieder ansetzender Versuche der Höreraktivierung - hier wären für die 20er Jahre neben Brecht vor allem Walter Benjamin, für die 60er/70er Jahren unter anderem die Experimente mit "Hörerspielen" zu nennen - dieser zweite Schritt des Produktivmachens wollte dagegen nicht recht gelingen. Hier blieben der Rundfunk [wie später das Fernsehen in immer niveauloserer Form], ist heute auch das Internet der von der Werbung gerne genutzte Distributionsapparat.

Die Lösung kam von einer anderen Seite und markiert zugleich die Anfänge des Internets.

Kurz nach dem Ende des 2. Weltkriegs stellte [nämlich] der Ingenieur Vannevar Bush, zu jener Zeit wissenschaftlicher Berater des US-amerikanischen Präsidenten Roosevelt, den Entwurf für eine Maschine vor. Diese Maschine, MEMEX (MEM(ory)-EX(tender)) genannt, von der Größe eines Schreibtisches, sollte alle Schriftdokumente auf der Basis eines Microfiche-Systems der Menschheit griffbereit halten. Und jeder Lesende sollte die Dokumente miteinander verknüpfen und weitere Informationen hinzufügen können. Der so gemeinsam gewobene "Welt-Text" sollte alles Wissen verfüg- und handhabbar machen.

Was Vannevar Bush und Bertolt Brecht nach dem jeweiligen state of the art fordern ist letztlich der Übergang von der passiven Mediennutzung zur interaktiven Mitautorschaft. Und genau diese Möglichkeit bietet das Internet zum ersten Mal in der Mediengeschichte. [Auer]

In cyberspace, zitiere ich das geflügelte Wort Benjamin Whooley's, In cyberspace everyone is an author, which means no one is an author: the distinction from the reader disappears. Exit author..."

Heute böte - und Susanne Berkenhegers Experiment oder Olia Lialinas "My boyfriend came back from the war" zum Beispiel [ferner "Anna Karenin goes to paradies"] scheinen mir dies zu bestätigen - das Internet die Möglichkeit, auch die zweite Forderung Brechts zu erfüllen, den Dialog mit den Benutzer, wenn auch auf einem anderen technischen Spielfeld, Realität werden zu lassen, gegen den Einbahnverkehr der Datenautobahn künstlerische Kommunikation in alle Richtungen zu betreiben.

Freilich, die Möglichkeiten sind noch beschränkt, vieles von dem, was zum Beispiel Johannes Auer und ich eigentlich wollen, scheint noch nicht machbar. Erinnert man sich jedoch daran, in welchem Maße die nicht literarischen Bedingungen, das Mikrophon z.B., die Ultrakurzwelle, die Stereofonie und Kunstkopfstereofonie und schließlich die Digitalisierung der Aufnahme die Genese des Hörspiels mitbestimmt haben, läßt sich angesichts der rapiden technischen Entwicklungen in der Computerindustrie auch für das Internet ein schneller Zugewinn an ästhetischen Spielmöglichkeiten voraussagen, die es allerdings und nicht im Einbahnverkehr zu nutzen gilt. Vorausgesetzt, der Autor überläßt das Internet nicht ausschließlich den Programmierern und versteht sich selbst als Künstler einer (radikal) sich wandelnden Medienkultur.

Wenn auch die diesjährige "Woche des Hörspiels" in Berlin bedenklich schloß, die gleichzeitige erste "Medienkunst-Biennale" zeigte mit einer ganzen Reihe experimenteller Performances neue Perspektiven: Hip-Hop, Rap oder Techno wurden mit Texten und Bildern kombiniert, wobei die Bühne von Aufzeichnungsgeräten und Computern dominiert war. Und das bereits zeigte, worauf die Intermedium letztlich zielt: eine Kunst, deren Instrumentarium die alten und neuen elektronischen Technologien sind und die, durch die Zusammenführung im gemeinsamen digitalen Aufschreibsystem, die alten Gattungsgrenzen nicht mehr kennt.

Radiokunst geht bereits, soweit sich die Rundfunkanstalten für die neuen Technologien und das Medium Internet geöffnet haben, mehr und mehr in einer so definierten Medienkunst auf. Das traditionelle Hörspiel, beim Bayerischen Rundfunk bezeichnenderweise im Ressort "Hörspiel und Medienkunst" verwaltet, tendiert zur Selbstauflösung, findet zunehmend als eigenproduzierte Medienkunst außerhalb der Sender statt und wird per CD-Rom oder Internet verbreitet. Bei Ausschöpfung der interaktiven Möglichkeiten könnte dies aber letztendlich gar nicht so überraschend zu einem visuell-akustisch-textuellen Spiel neuen Typs führen, vielleicht zu dem von Lautreamont prognostizierten sichtbare[n] und hörbare[n] Buch der Zukunft.

Noch war in Berlin freilich "Medienkunst" eng gefaßt (dominierte durch die parallele "Woche des Hörspiels" eine Klangkunst). Das Netz, die Computerkunst und die dazugehörigen interaktiven Elemente blieben noch weitgehend außen vor. Daß sich das bis zur "Intermedia II", 2001, die vom Bayerischen Rundfunk und dem ZKM verantwortet werden wird, ändern könnte, ist allerdings anzunehmen.

Unter diesen Erwartungen ist - und damit komme ich zum Schluß - auch die Frage nach den ästhetischen und inhaltlichen Herausforderungen nicht einer Literatur im Netz, wohl aber einer Netzliteratur zu diskutieren.

  • Der traditionelle Printautor, der lediglich ein abgeschlossenes Manuskript abzuliefern hatte, der Film- oder Hörspielautor, der - wenn er nicht nur die Vorlage lieferte - ein Drehbuch abzuliefern hatte, verschwinden dabei im Netz. An ihre Stelle tritt der Netzautor, der seine Texte als Programmierer, Operateur und Dirigent selbst verwaltet.
  • Die technische Apparatur und ihre Bedingungen sind dann das Medium, an dem sich der Netzautor und der Internetnutzer zu den Bedingungen des Netzes treffen.
  • Dabei wird Leser, der freilich immer schon den Text herstellte, zum Mispieler in einem Netzwerk, dessen Grundlage der offene, den Leser als aktiven Rezipienten einschliessende Text ist.
  • Wie Netztexte heute aussehen können, was sie als solche charakterisiert, habe ich an einigen Beispielen anzudeuten versucht. Wie sie aussehen werden, kann vielleicht die folgende Diskussion erörtern.
  • Ich schließe, wie ich begonnen habe, wenn auch im Präsenz: Und Minchen nimmt den Strickstrumpf wieder auf.


[4.12.1999 Einführungsreferat zur Podiumsdiskussion "Literatur im Internet". Köln: 30 Jahre VS. Jubiläumskongress. Bücher - Brüche - Aufbrüche]

 

Literatur
Johannes Auer: Lesen und Schreiben im Internet
Johannes Auer: Der Leser als DJ oder was Internetliteratur mit HipHop verbindet
Reinhard Döhl: Ansätze und Möglichkeiten künstlerischen Dialogs und dialogischer Kunst. Ein Überblick.
Reinhard Döhl: Von der ZUSE Z 22 zum WWW.
Reinhard Döhl: Keinort Stuttgart / nirgends

 





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