Vitrine 11
Rede zur Finissage



Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde des DEUTSCHEN HANDWERKs,
 

während Sie hier in eisiger Kälte mit blaugefrorenen Lippen stehen, um mit uns die "Vitrine 11" des DEUTSCHEN HANDWERKs zu feiern, hat vor kurzem in Tübingen für den heutigen Tag der letzte der sogenannten Kunstfreunde mit Tränen der Rührung und warmen Füßen die Kunsthalle verlassen und die wundervollen Bilder Renoirs versinken im gnädigen Dunkel.

Erwin Teufel sprach bei der Eröffnung der Adriani-Ausstellung von einer Bereicherung für die ganze Region, na ja, letztlich wird wohl vor allem in Tübingen etwas hängenbleiben.

Aber, und das ist wichtig, nicht eine Kritik am Tübinger Ausstellungsbetrieb soll hier formuliert werden, mag doch Götz Adriani, der Deyle der Kunst, seine Ereignisse zelebrieren, dagegen hat das DEUTSCHE HANDWERK nichts, seine Kritik richtet sich gegen die museale Entschärfung Renoirs, gegen die Verkennung der immer noch aktuellen und befruchtenden Stilmittel seiner Kunst.

Es ist geradezu paradox einen der größten Impressionisten, einen Plein-air Maler, der bewußt die verstaubten Ateliers verließ, um im Freien die Natur, das natürliche Licht einzufangen, in die sterilen Räume einer Ausstellungshalle zu pressen.

Das DEUTSCHE HANDWERK bekennt sich mit der "Vitrine 11" zu Plein-air (zu Frei-Luft), auch wenn es hier seine, dem aktuellen Lebensgefühl entsprechende Interpretation vorführt.

Dega, der große künstlerische Bruder Renoirs, schuf seine impressionistischen Werke "unter Ausschluß impressionistischer Himmelsweiten", wie Götz Adriani aus Anlaß einer anderen Großausstellung formulierte. Wenige Jahrzehnte später schrieb Walter Benjamin sein Passagenwerk. Hier im Lebensgefühl der Großstadt zu Beginn unseres Jahrhunderts liegen die Wurzeln der "Vitrine 11", allerdings radikalisiert zum Souterrain, oder wie man ironisch formulieren könnte, zur "Klett-Passage".

Doch zurück zu Renoir, den jetzt in Tübingen bezeichneten "Realisten des schönen Scheins". Ist seine Form der Wirklichkeitswiedergabe, die in der Natur das Vorgefundene ins Bild setzt, nicht schon eine Vorwegnahme oder Hinführung auf das "Objekt trouvé" eines Miro oder das Readymade eines Duchamp?

Wurde mit letzteren endgültig die Grenzen zwischen künstlerischer und außerkünstlerischen Wirklichkeit unsicher, so erlaubt sich das DEUTSCHE HANDWERK hier noch eine weitere Radikalisierung, indem es nach einer Wirklichkeit von Kunst fragt, die die Nichtbeachtung konstitutiv (d.h. begründend) für das Kunstwerk mitdenkt. Werden für Renoir 500 000 Besucher prognostiziert, so wurde die "Vitrine 11", in den zwei Monaten ihres Bestehens von ca. 600 000 Vorbeieilenden nicht beachtet. Ich denke schärfer kann die Frage nach der Wirklichkeit von Kunst nicht gestellt werden.

Doch noch einmal zurück zu Renoir. Was gilt uns heute noch sein malerisches Oberflächenspiel der Farben?


Die "Vitrine 11" scheint hier eine radikale Absage zu formulieren: das Oberflächenspiel entsteht als Surrogat (als Ersatz) einer sich spiegelnden Glasoberfläche, das künstlerische Werk erscheint in den Hintergrund abgedrängt, als bloße Ware charakterisiert.


Und doch, betrachtet man die Vitrinengegenstände genau, so scheint in einzelnen doch eine Sinnenfreude, ein Lebensbegehren auf, das, und ich möchte ihr Augenmerk auf die kleine weibliche Figur an der rechten Seitenwand lenken, das mit einem geläufigen Urteil über Renoir zu bezeichnen wäre, er war, so heißt es, der Maler der "schimmernd dargebotenen Blöße".

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
 
 

Klettpassage, Stuttgart 26.01.1996 / Frieder Rusmann