Stuttgarter Zeitung, 14.11.2005, S. 13

Was dächten Dadaisten?
Merkwürdiges und Denkwürdiges beim Netzliteraturfestival

Von Ricarda Stiller

So jung und bunt gemischt war das Publikum im Stuttgarter Literaturhaus selten. Passend zum dreitägigen Netzliteraturfestival "Code - Interface - Concept" hat sich der Lesungssaal in einen mit Leben und Technik gefüllten Raum verwandelt: Überall führen Kabel zu Notebooks, Projektoren oder Mikrofonen. Im Hintergrund wird live vom Festival in einem so genannten Weblog berichtet, in den Pausen untermalt die Stuttgarter Band Cadavre Exquis das Geschehen. Das lädt ein, zu verweilen, zu diskutieren, quer zu denken - und vor allem mit Festivalteilnehmern und Referenten ins Gespräch zu kommen.

Viel zu selten treffen Vertreter unterschiedlicher Disziplinen aufeinander. Dabei gibt es seit der Entstehung des Internets mehr Überschneidungen denn je - etwa zwischen bildender Kunst und Literatur, Kunst und Technik, Literatur und Informatik. Nach zehn Jahren Netzliteratur, die eng mit der Stadt Stuttgart verknüpft ist, sollte nun eine erste Bilanz gezogen werden. Dass bei dem vom Künstler und Kurator Johannes Auer organisierten und hochkarätig besetzten Festival Autoren, Künstler, Literatur- und Medienwissenschaftler mit Kunsthistorikern, Studenten und interessierten Laien in den Dialog getreten sind, kann nicht hoch genug bewertet werden. Dass manch eine Performance den Besucher irritiert oder ratlos zurückgelassen hat, gehört zum Konzept.

So eröffnen gleich am ersten Abend Jodi (Joan Heemskerk und Dirk Paesmans) die Veranstaltung mit einer verstörenden Computerliveperformance. Das Künstlerpaar gehört zu den Ersten, die sich mit dem Computercode als Material beschäftigt haben. Das Prinzip ist stets ähnlich: Immer wird die Form durchbrochen, wird gegen den Strich gearbeitet. In einer frühen Netzkunstarbeit zeigt die normale Ansicht im Browserfenster rätselhafte Zeichen. Lässt man sich jedoch den Quellcode anzeigen, also das Verborgene, was den normalen Nutzer nicht interessiert (mit einem einfachen Klick im Menü aber aufzurufen ist), kommt ein grafisch gestalteter Programmcode zum Vorschein.

Um diese Arbeit zu begreifen, muss der Betrachter entweder mit dem Medium gut vertraut sein oder eine Anleitung erhalten. Auch die neuen Arbeiten von Jodi funktionieren ähnlich. Computerspiele werden in ihre Bestandteile zerlegt, Abläufe ad absurdum geführt, wenn etwa Figuren im Sekundentakt gegen die Wand laufen. Und genau hier können Assoziationen und Bezüge zur bildenden Kunst entstehen.

Neben all den spannenden Vorträgen und wissenschaftlichen Interpretationen von Netzkunst und -literatur kamen auch Literaten wie Alban Nikolai Herbst oder Valeri Scherstjanoi zu Wort. Scherstjanoi hat ein völlig eigenes Alphabet entwickelt, sein "scribentisches abc" umfasst 3000 Zeichen, hübsch anzusehen für jeden, zu entziffern nur von ihm. Groteskerweise hat sich niemand so "intensiv und gleichzeitig so erfolglos" damit beschäftigt wie die Stasi zu DDR-Zeiten, sagt der in Berlin lebende Autor amüsiert. Weil Scherstjanoi es schade findet, dass aus dem russischen Alphabet so viele Buchstaben - insbesondere Vokale - verschwunden sind, hat er eben seinen eigenen Code geschaffen. In der Aufführung seiner Lautgedichte wird klar, dass er sich intensiv mit dem Dadaismus beschäftigt hat. Wenn er dann noch in seiner charmant aufgedrehten Art erzählt: "Ich sehe meine Zeichen durch den Raum schweben, während ich sie in Laute verwandle", glaubt man ihm das sofort.

Auf den Dadaismus beziehen sich die Referenten immer wieder, auf Duchamp, auf Jandl, auf Schwitters. Abgesehen davon, dass wir Kunst seit Duchamp nie mehr ohne den sie umgebenden Kontext betrachten können, ist er vielleicht auch wirklich derjenige, der den Weg für diese neue Kunstform bereitet hat. Eine ganz banale Parallele zu seinen Arbeiten gibt es ohnehin: Die meisten Werke lassen sich nur schwer ausstellen.

"Hätten die Dadaisten das gewollt?" fragt der Kunsthistoriker Beat Wyss seinen Kollegen Hans Dieter Huber. "Klar", antwortet der und lässt die nächste provokante Frage von Wyss über sich ergehen. Was "die alten Säcke" (O-Ton Huber) zum Thema "Systemtheorie der Clubszene" anhand der visuellen Erweiterung des DJ-Prinzips (VJ-ing) dialogisch präsentieren, ist bisweilen so unterhaltend wie die "Muppet Show". Die beiden Herren in ihren schwarzen Anzügen lösen von der Bühne her dann noch eine spannende Diskussion mit dem Publikum aus.

"Code - Interface - Concept" war zwar nicht die erste, aber die bisher umfassendste und wichtigste Veranstaltung zum Thema Netzliteratur in Stuttgart. Möge der Dialog zwischen den Kulturschaffenden jeglicher Couleur fortgesetzt werden. An Diskussionsstoff jedenfalls - das haben die lebhaften Gespräche gezeigt - herrscht kein Mangel. Und wenn sich Literatur- und Kunstwissenschaft künftig intensiver mit Computercode beschäftigen müssen: gemeinsam geht ja bekanntlich vieles besser.

Zum Abschluss des Festivals wurde noch der im Vorfeld ausgeschriebene Junggesellenpreis verliehen. Florian Cramer gewann ihn für seine Arbeit http://plaintext.cc; Weitere Links: www.junggesellenpreis.de; www.netzliteratur.net; http://blog.literaturwelt.de

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