DAS DEUTSCHE HANDWERK zeigt "Männer, Mädchen und Maschinen"

Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 4.7.98 bis 6.9.98

Akustischer Ausstellungsführer


(Musik aus)
Das Kunstwerk allein ist nichts. Nur im Gegenüber mit einem Betrachter erlangt es Präsenz, findet seine Sprache und öffnet sich zum Dialog.
Ebenso ist Kunst ein Geschichtliches und nur auf der Folie ihrer historischen Entwicklungsdimension begreifbar.
Wir begrüßen Sie in dieser Ausstellung und möchten Sie in einen Diskurs mit dem Kunstwerk führen und gleichzeitig zu einer Reise präziser historischer Vergewisserung einladen.

Vier Thesen an vier Stellen des Raumes sind vorbereitet, vier Gedanken- vier Reflexionspunkte, vier Reiseziele in die Vergangenheit sind am Boden markiert.

Bitte begeben Sie sich zu Ziffer 1 und richten Sie Ihr Augenmerk auf den Kubus in der Mitte des Raumes.

(Musik an, lauter 15 Sek.)
(Musik leiser, im Hintergrund)

Bis zum Beginn der Neuzeit stand die Kunst überwiegend in religiösem, kultischem, magischem Dienst.
Mit dem Beginn der Seßhaftwerdung am Ende der Jäger- und Sammlergesellschaft prägte sich die Behausung unserer Urväter kubisch aus. Diese Grundform des beherbergenden Raumes findet sich in nahezu allen Siedlungsräumen und Epochen der Menschheitsgeschichte.
Einher mit dem kulturellen Umbruch der Seßhaftwerdung geht eine Veränderung der Gottesverehrung. Waren bis zu diesem Zeitpunkt die göttlichen Kräfte in der Natur präsent, in Quellen, Bäumen, Steinen lokalisiert, werden sie - mit der Siedlung - von ihrer geographischen Repräsentanz autonom und erhalten in den ackerbautreibenden Kulturen, als Idol geformt, einen festen architektonischen Raum zugewiesen.
Die griechische Antike prägt hier die idealtypische Form, die Cella.
Die Cella, der rechteckige nach außen geschlossene Kultraum ist Zentrum und Allerheiligstes des griechischen Tempels, der Ort des Göttlichen.
Auffällig jedoch, daß der griechische Tempel - aus dem Wohnhaus, dem Megaron, als Behausung des Gottes entwickelt - auffällig jedoch, daß der Tempel die menschliche Proportion wahrt, denn: die griechische Kunst versucht die fremde Umwelt nach menschlichem Gesetz zu gestalten und erfahrbar zu machen.
Martin Heidegger formuliert das in seiner Abhandlung "Der Ursprung des Kunstwerkes" folgendermaßen: "Das Tempelwerk eröffnet dastehend eine Welt und stellt diese zugleich zurück auf die Erde, die dergestalt selbst erst als der heimatliche Grund herauskommt."1
"Der Tempel gibt in seinem Dastehen den Dingen erst ihr Gesicht und den Menschen erst die Aussicht auf sich selbst."2

(Musik 7 Sek. lauter)
(Musik aus)

Bitte begeben Sie sich jetzt zu Markierungspunkt 2 und richten Sie Ihr Augenmerk auf die Beziehung vom Kubus zur raumüberwölbenden Kuppel.

(Musik lauter 15 Sek)
(Musik leise, im Hintergrund)

1948 erscheint Hans Sedlmayrs "Verlust der Mitte" als erste deutschsprachige Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst nach dem 3. Reich.
Der österreichische Kunsthistoriker erklärt in diesem Buch die Kunst der letzten 100 Jahre als erkrankt, vom Wesensverlust befallen, kurz, als ihrer Mitte beraubt.
Der "Verlust der Mitte" wird als wichtiges Grundlagenwerk gefeiert, erscheint mittlerweile in der 18. Auflage und wird immer noch zitiert. So schreibt DIE ZEIT in einer Rezension: "Hans Sedlmayr ist einer der wenigen am Gespräch um die moderne Kunst Beteiligten, der wirklich Kriterien und schlüssige Argumente zur Hand hat".
Exemplarisch erprobt Sedlmayr seine These an Entwürfen des Revolutionsarchitekten Ledoux für Bauten in Form einer Kugel.

Zitat: "Eine solche radikal neue 'Form' ist zum Beispiel die Idee, die Kugel zur Grundform eines ganzen Gebäudes zu nehmen. Dieser Gedanke erscheint den meisten bloß als ein schlechter Scherz, als Irrsinn, Wohlwollenderen vielleicht als ein 'Experiment mit der Form', und er ist (...) tatsächlich unsinnig"3.

Und an anderer Stelle: "Wie könnte der 'Kosmopolit'(...), der heimat- und bodenlose Zukunftsmensch anders hausen als in der Bodenlosigkeit des Kugelhauses, dessen Tyrannei er sich (...) freiwillig unterwirft. Beide, 'Kosmopolit' und Kugelhaus, sind Geschöpfe derselben abstrakten Phantasie." 4

Bitte blicken Sie nun in die Kuppel und stellen Sie sich vor, wie sich die Halbschale zur Kugel formt.
(Pause 5 Sek.)

Lassen Sie den unteren Scheitel dieser Kugel auf dem Kubus aufsetzten.

(Pause 5 Sek.)

Verankern Sie mit ihrer Vorstellungskraft das runde architektonische Gebilde fest in der Mitte des Raumes.
(Pause 5 Sek.)

Bitte denken Sie darüber nach, daß Sie soeben Krankes erschaffen haben.
(Musik lauter 7 Sek)

(Musik aus)

Bitte begeben Sie sich jetzt zu Markierungspunkt 3.

(Musik lauter 15 Sek)
(Musik leise, im Hintergrund)

Im allgemeinen Bewußtsein ist die Jahreszahl 1910 mit der Erschaffung des ersten rein abstrakten Kunstwerkes verbunden. Wassily Kandisnsky soll in diesem Jahr das erste abstrakte Aquarell gemalt haben. Tatsächlich, das haben Forschungen gezeigt, entstand es erst 1913.
Der Stuttgarter Kunsthistorikerin Karin von Maur kommt das große Verdienst zu, die Kandinsky-Legende noch stärker zu relativieren5.
Der überragende Beitrag von Stuttgarter Künstlern zur abstrakten Kunst ist allgemein bekannt und oft gewürdigt. Weniger bekannt, ja gern übersehen wird die Tatsache, daß das erste abstrakte Kunstwerk nicht von Kandinsky sondern von einem Künstler in Stuttgart erarbeitet wurde.
Im Jahr 1905, Albert Einstein veröffentlicht gerade seine "Spezielle Relativitätstheorie", wird Adolf Hölzel an die Stuttgart Akademie berufen.
Diese Veränderung hat nicht nur zur Folge, daß er die Farbe seiner Bilder wechselt, vielmehr malt er genau in diesem ersten Stuttgarter Jahr sein erstes weitgehend abstraktes Gemälde, die "Komposition in Rot".
Hölzel, stets an theoretischen Problemen der Kunst interessiert und selber als Theoretiker stark engagiert, gelangt über Goethes Farbenlehre und eigene Formstudien konsequent zu einem überwiegend abstrakten Stil. "Die Komposition in Rot" von 1905, die schon durch ihren Titel programmatisch den Verzicht auf Konkret-inhaltliches und Gegenständliches signalisiert, markiert dabei einen Meilenstein in Hölzels Entwicklung und in der Entwicklung des abstrakten Stiles.

(Pause 5 Sek.)

Die rote Farbe der geometrisch abstrakten kubischen Form, die Sie hier vor sich sehen, ist eine Referenz an Adolf Hölzels frühes Meisterwerk.

(Pause 5 Sek.)

Hölzels Leistung an die Moderne muß für Stuttgart erinnert und zurückgewonnen werden.

(Musik lauter 7 Sek)
(Musik aus)

Bitte begeben Sie sich jetzt zu Markierungspunkt 4.

(Musik lauter 15 Sek)
(Musik leise, im Hintergrund)

Im 18. Jahrhundert kommt es zu einer folgenschweren Umgewichtung ästhetischer Positionen. Renaissance, Barock, ob in Italien, Deutschland, England oder Frankreich  war, vereinfacht gesagt, einer klassizistischen Ästhetik, dem antiken Normenkatalog verpflichtet. Mit der Aufklärung wird auch in der bildenden Kunst die klassische Doktrin zunehmend in Frage gestellt.
Die neue, empirische Ästhetik ist subjektivistisch. Sie fragt nicht nach den durch Regeln a priori festgelegten Strukturen des Werks, sondern nach den inneren Vorgängen im Kunstschöpfer und Kunstbetrachter. Diese Subjektorientierung, die ein neuartiges Verständnis von Schöpfertum - das Genie - zur Folge hat, entspricht prinzipiell der allgemeinen Emanzipation von autoritativ festgelegten Normen zugunsten der individuellen Erfahrung. Nicht umsonst ist "Kritik" das Wort der Stunde und Immanuel Kant mit seinen drei Epochalen "Kritiken" der Philosoph am Beginn des bürgerlichen Zeitalters.
In der "Kritik der praktischen Vernunft" beweist Kant durch das apriorische moralische Gesetz in uns, den sogenannten kategorischen Imperativ, die Freiheit des Willens: Du kannst, denn Du sollst.

Immanuel Kants "Kritik der praktischen Vernunft" endet mit dem berühmten Worten: "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir".
Stellen Sie sich nun bitte den Kubus als formale Außenprojektion des inneren Gesetzes - des kategorischen Imperativs - vor, umgewandelt in eine reine Anschauungsform. Heben Sie Ihren Blick in die Kuppel und imaginieren sie das traditionell mit der Kuppel verbundene Motiv des Himmelszeltes.
Hatte Kant in der "Kritik der reinen Vernunft", Gott als unbewiesen vorgeführt, so gelingt ihm mit dem Sittengesetz über den Begriff der Glückswürdigkeit das Postulat einer Existenz Gottes.

Wenn wir den Kubus als Symbol des Sittengesetzes betrachten, wird er so wieder Wohnstatt des Gottes, und damit sind wir abermals bei der Cella und am Beginn und gleichzeitig am Ende unseres Rundganges angelangt.
 
Wir danken ihnen für ihre Aufmerksamkeit, bitte schalten sie das Gerät jetzt ab und gebe sie es an der Garderobe zurück.

(Musik stop)



1 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart 1960, S. 38.
2 Ebenda, S. 39
3 Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte, Frankfurt/M u.a., 10. Aufl. 1983, S.9
4 ebenda, S.98f.
5 Stuttgarter Kunst im 20. Jahrhundert - Malerei, Plastik, Architektur, Stuttgart 1979, S. 16f.


Frieder Rusmann