Warum van Gogh sein Ohr verlor
oder das ökonomische
Prinzip zum Wahnsinn
Literarisches Vorspiel (gr. - dt.)
Sokrates säuft, die Schale kreist und kreist,
er deliriert auf Platons Kline über den Eros,
der geile Bock, und sie nennen es nüchterne
Besoffenheit. Glückliche Griechen.
Nur Alkohol und Kopfschmerzen.
Das ist genial.
Kein Wahnsinn, keine Melancholia,
nur etwas Durst und darüber trinken.
Johann drängt da anders und mit ihm
die Stürmer. Die sind Schöpfer und
holen im Wandern die Werke aus sich
heraus wie der Adler im Flug die Leber
des Prometheus. Die pfeifen auf die
Bildung, die zu nichts verbildet und
sind orginal.
Doch der Johann verdrängt und schläft längst.
Und die müde gewordene Vernunft gebiert
Blumen, blauer wie Sokrates und daneben
wie Hölderlin. Der meckert am Neckar bis ihn
Diotima in den Turm wirft, kultiviert den Wahn,
schreibt es auf und die gebildeten Bürger rufen:
das ist Kunst.
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An dieser Stelle endet die schöne
Mär: die Muse fällt bald darauf in die Hände von Luden und haust fortan im Bordell am Markt ...
1886 tritt Vincent van Gogh in Bruder Theos
Erdgeschoß, kaut auf einem Kleeblatt und sinniert über die vorbildliche
Tragik seiner künstlerischen Existenz.
Minus: er ist arm, er ist unbekannt, und er verkauft nichts.
Plus: er ist gesund an allen Körperteilen, gesund an Geist und gesund im Leben.
Einfache Mathematik: Minus und Plus heben
sich auf, denkt Vincent, verwandelt mit Schlizohrigkeit das Positive ins
Negative und multipliziert zur künstlerischen Potenz:
(arm, unbekannt, nix verkauft) x (ohrlos,
wahnsinnig und früh verstorben) =
der prototypische Künstler des
20. Jahrhunderts - genial, wahnsinnig und arm.
Ernst Krins und Otto Kurz analysieren in
ihrem 1934 erschienenen geschichtlichen Versuch "Die Legende vom Künstler"
typische Motive von Künstlerviten, die sich "in zahlreichen Biographien
gleichlautend oder mit geringen Veränderungen wiederholen". Ein wichtiges
Ergebnis dieser Arbeit könnte man wie folgt beschreiben: durch die
zunehmende Herauslösung der Kunst aus magischen, kultischen
und religiösen Zwecken bedarf sie immer stärker einer Legitimierung
durch die Ausnahmestellung des Künstlers, die letztlich in der Idee
vom Genie kulminiert.
Dabei wird die Heroisierung der Künstlerpersönlichkeit
durch stereotype Anekdoten mit hohem Wiedererkennungswert unterstützt,
die sich seit der Antike als typische Züge in Biographien von Künstlern
wiederfinden, bla bla bla... .
Ein kleines anschauliches Beispiel? Aber
gern: Dieter Daniels traktiert seitenlang als Adept der K. u. K. Gelehrten
in seinem Buch „Duchamp und die anderen" das Hirtenmotiv als Beginn der
künstlerischen Laufbahn von Lysipp bis Giotto - überall
bukolische Schafe - ja selbst der Nihilist des Kunstbegriffs Joseph
"der Hirte" Beuys habe seine künstlerischen Materialien Fett und Filz
nach rauschendem Abgang bei den Tataren gefunden. Aber, so beschließt
Daniels seine opulente Materialsammlung: "Nichts von alldem trifft im Fall
Marcel Duchamps zu". Huch, ja was denn nu, Dieter?
Was uns Herr Daniels damit eigentlich
sagen will ist, daß Hinz und Kunz recht haben für den von ihnen
untersuchten Zeitraum von der Antike bis zur Geniezeit.
Dieter sagt damit außerdem, daß
sie auch für die Gegenwart recht haben könnten, wenn in der heutigen
Künstlerbiographik ein zentrales biographisches Stereotyp erkennbar
wäre.
Und genau dieses Stereotyp ist aus dem
Leben Vincent van Goghs destilliert. Hätte van Gogh nicht gelebt,
man hätte ihn erfinden müssen. Vincent, du bist nicht umsonst
gestorben!
Aber wer ist MAN und wozu die vorbildliche
van Goghsche Tragik?
MAN ist der Kunstmarkt, das Böse
an sich, der Galerist. Der hat sein Markenzeichen gefunden und Vincents
Wasserzeichen - genial, arm, wahnsinnig (wobei der Wahnsinn zur Macke oder
Masche trivialisiert werden kann) - van Goghs Lebensentwurf wird
zur Marktfähigkeit in die Künstlerbiographie eingeprägt.
Wundervoll dabei die drohende Kraft der einfachen Formel: bist du arm,
bist du Künstler - bist du reich, bist du Lüpertz... .
Jedoch, und das ist das historisch Neue,
diese sonnenblumige Künstlerlegende dient kaum mehr der Legitimierung
von Kunst als Produkt einer außerordentlichen Existenz, primär
ist Vincents Wahnsinn prickelndes Amüsement für eine sinnentleerte
Gesellschaft, die sich nur noch im Event erlebt - mit dem Künstler
als genialem Hampelmann, dessen Werke der Galerist um so besser verkauft,
je mehr die Marionette dem erwarteten Künstlertypus entspricht, je
verrückter desto besser. Was verkauft wird ist dabei letztlich sekundär.
Frugal formuliert: der Glauben an die orginäre
Genialität des Künstlers (Banane) wird zum Werbeattribut (Bananenschale)
instrumentalisiert, wobei der Künstler als Alleinunterhalter im Zoo
des Kunstmarktes den Affen mimt, zur nervenkitzligen Freude (Bananen-Shake)
des eventsüchtigen Publikums. Als Dankesgabe werden seine Werke gekauft
- oder, hat er den Werkbegriff gesprengt, erhält er als Lohn ein Stipendium
(Zuckerle).
Jetzt schneide ich es ab mein Ohr, ruft
Vincent. Prima und Küßchen, Küßchen antwortet das
Publikum.
Und da das Genie nun taub ist, können
wir mit ihm keinen Dialog mehr führen über den Ausweg aus der
Krise und wie man sich wehrt.
Vincent! Mir graut's vor dir.
Frieder Rusmann |