Manifest für den natürlichen Tod des Kunstwerks - ein Merkblatt -
Wo ist Hoffnung, wenn mit zunehmendem Alter die Hautoberfläche gleich der Erfahrung zunimmt und sich zu kräuseln beginnt wie die Seeoberfläche beim ersten Hauch des Herbstwindes? Wer glättet die Sorgenfalten? Wer verscheucht die Krähen, die durchs Gesicht fußeln? Nicht Ellen Betrix. Nicht Oil of Olaz. Freunde schmeißt die Tiegel und Tuben sortiert in den Müll. Unsere wahre Hoffnung ist die Kunst! Die vergeht nicht. Die wird mit zunehmendem Alter immer besser, wie guter Wein. Und das Wunderbarste: sie altert spurenfrei. Schauen wir ein wenig neidvoll in die Restaurierungskammern der Museen. Schauen wir bewundernd zu den Pigment-Doctores auf: sie haben das Geheimnis ewiger Jugend entdeckt! Und wieder hängt Leornardos lächelnde Schlampe mit 500-jähriger Samthaut wie ein Pfirsichpopo im Rahmen. Ja, warum denn? Ja, was soll das? Warum wird auf Sixtina komm raus erhalten, bewahrt und retuschiert? Machen wir uns nichts vor: die zwanghafte Erhaltung von Kunst, die umfassende Durchästhetisierung des Alltags, die ständige Reanimation und "Wiederentdeckung" vergangener Kunstepochen ist nur Ausdruck der heutigen Phobie vor Alter, Runzeln und Tod. Kunst als zeitlose Konstante ist die Wunschprojektion der altersfreien Gesellschaft, ein verkehrtes Dorian-Gray-Syndrom. Und dabei entspricht die ständige und zwanghafte Restaurierung alter "Kunstwerke" genau dem Face-Lifting des Schönheitschirurgen. Der Erhalt abrissreifer Schrottbauten dem Jogging-Widerstand gegen erschlaffendes Fleisch. Nehmen wir die Dresdner Frauenkirche: der historische Prozeß wird umgekehrt und das ausgebrannte Symbol einer Gewaltherrschaft wird mit weltweitem Spendenaufkommen versöhnlich zurückidyllisiert. Die Dresdner Frauenkirche ist die erste globale Kirchturmpolitik. Früher lehnten die Avantgarden das Altbackene ab: Wenn Marcel Duchamp Mona Lisa einen Bart malt, sagt er, dass diese Kunst einen Bart hat. Marinettis futuristische Rennwagenbegeisterung blies für Nike die Totenhupe. Heute ist Nike eine wohlgenährte Sportmarke, die alles daransetzt, die Fiktion des sportlichen Jugendlichen bis ins Grab zu verlängern. Denn Infantilisierung, das ist die andere Seite der Medaille: Jugendliche und Erwachsene tragen Kleidergrößen, in die sie niemals hineinwachsen können, selbst, wenn sie die Wachstumsgeschwindigkeit von 6jährigen besäßen. Trendsportgerät der Mittdreisiger war noch kürzlich der Tretroller, dem sich früher schon Vierjährige entwachsen fühlten und lautstark ein Fahrrad forderten. Und natürlich schauen die Erwachsenen Tierfilme, die abendfüllend jedes Fernsehprogramm beherrschen. Während Kunst früher komplex die Welt rumwürfelte, reagiert sie heute allzu oft devot mit Basiserfahrungen zum Tasten, Schmecken, Sehen, kurz mit Sinneszirkeln für Infantilgebliebene. Das darf nicht sein! Wir sind das Ende
der Fahnenstange! Stand am Anfang der Moderne mit Raffael die Einstellung
des ersten Denkmalpflegers, so müssen wir ihm, nach ihrem Ende, jetzt
endlich und schleunigst die Entlassungspapiere schreiben.
V.i.S.d.P. Frieder Rusmann |