Frieder Rusmann:
Landschaft als ästhetisches und biographisches Phänomen

[ Ausstellungseröffnung | [‘ai]-land | Stephanie Bollinger |  17.9.99 ]

Am 26. April 1335 besteigt Petrarca den Mont Ventoux. Der Bericht darüber, den Petrarca unmittelbar nach dem Abstieg in "bäuerlicher Herberge" schrieb, begreift zum erstenmal Natur als ästhetisches Phänomen.
Jakob Burckhardt: Mit dieser Bergbesteigung gehört Petrarca zu den "frühesten unter den Modernen ...,(der) die Gestalt der Landschaft als etwas mehr oder weniger Schönes wahrgenommen und genossen" hat.

Eine folgenreicher Aufstieg. Seither lassen sich in der Kunst der Neuzeit zwei Beanspruchungen von Natur nachweisen: Landschaft als ästhetisches Phänomen und Landschaft als Topos der Künstlerbiographik.

Landschaft als ästhetisches Phänomen wird allerdings nahezu von Anfang an als rückwärtsgewandte Vision begriffen. Et in Arcadia ego – I, too, was born in Arcadia – Moi aussi je fus pasteur en Arcadie - Auch ich, ihr Hirten, weilte in Arkadien, so oder ähnlich lauten die Formeln.
Arkadien, das meint das ideale Reich des goldenen Zeitalters, das Arkadien des Theokrit und Vergil, das Arkadien der Hirtengedichte.

Die berühmteste bildliche Fassung des "Et in Arcadia ego" wurde um 1640 von Nicolas Poussin geschaffen: vier Arkadier sind in ruhiger Kontemplation vor einem in freier Landschaft stehenden Sarkophag versammelt, einer der Hirten kniet auf dem Boden und liest die Inschrift des Grabmals, et in Arcadia ego. Zur Beschwörung des goldenen Zeitalters tritt das memento mori, weshalb Erwin Panofsky et in Arcadia ego wohl zurecht mit "selbst in Arkadien gibt es den Tod" übersetzte. Der elegischen Trauer über ein verlorenes Zeitalter tritt das gegenwärtige bedenke, dass du sterblich bist hinzu und damit das carpe diem, die Aufforderung das ‚Jetzt‘ zu nutzen. Ich werde darauf zurückkommen.

Ist das zentrale Motiv der ästhetischen Landschaft das Arkadien der Hirten, die bukolische Landschaft, so tummeln sich auch im zentralen landschaftlichen Topos der Künstlerbiographik Schaf und Hirte. Vereinfacht ausgedrückt: ein richtiger Künstler ist daran zu erkennen, dass er als Kind die Herde seines Vaters hütet, dabei die Tiere auf Steine und in den Sand zeichnet, und dabei von seinem künftigen Mentor entdeckt wird. So ungefähr die Geschichte wie Giotto zum Maler wurde.

Ernst Krins und Otto Kurz analysieren in ihrem 1934 erschienenen geschichtlichen Versuch "Die Legende vom Künstler" typische Motive von Künstlerviten, die sich "in zahlreichen Biographien gleichlautend oder mit geringen Veränderungen wiederholen". Ein wichtiges Ergebnis dieser Arbeit könnte man wie folgt beschreiben: durch die zunehmende Herauslösung der Kunst aus magischen, kultischen und religiösen Zwecken bedarf sie immer stärker einer Legitimierung durch die Ausnahmestellung des Künstlers, die letztlich in der Idee vom Genie kulminiert.
Dabei wird die Heroisierung der Künstlerpersönlichkeit  durch stereotype Anekdoten mit hohem Wiedererkennungswert unterstützt, die sich seit der Antike als typische Züge in Biographien von Künstlern wiederfinden. So weisen sie insbesondere das eben skizzierte Hirtenmotiv als Beginn der künstlerischen Laufbahn von Lysipp bis Giotto, von Carravaggio bis Goya nach.
Dieter Daniel glaubt diese bukolische Initiations-Motivik noch bei Joseph Beuys nachweisen zu können. So habe dieser nach seinem Flugzeugabsturz im 2. Weltkrieg von Tataren (Hirten!) halbtot geborgen und zur Heilung in Fett und Filz gehüllt, so die wichtigsten Materialien seiner weiteren künstlerischen Existenz gefunden.

Beuys, so ließe sich also resümieren, biographisiert den ästhetischen Prozeß, indem er das Material (Fett und Filz) seiner Kunst mit der eigenen Biographie verknüpft, Poussin und die arkadische Tradition, ästhetisiert die Biographik, indem sie das Hirtenleben zur idealen Existenz verklärt.

Und was hat das nun mit dieser Ausstellung und mit Stephanie Bollinger zu tun?
Eigentlich nicht viel. Und ich gestehe, ich habe gerade begonnen mich ein wenig selbst zu langweilen...
Und doch werde ich nun zwischen dem bisherig Gesagten und dieser Ausstellung Punkt für Punkt Verbindungen nachweisen und Parallelen aufzeigen, Ihnen zur Freude und mir zur Ehre.

Davor sei noch kurz auf ein scheinbares Paradox eingegangen.

Stephanie Bollingers künstlerisches Haupt-Sujet ist die Landschaft.

[‘ai]-land, Titel der Ausstellung, läßt sich 4-fach übersetzten mit

1. Ei-land (wie Eier-Land, wobei bitte nicht Landei zu assoziieren wäre, sondern eher die eben skizzierte bukolisch Motivik)
2. Is-land (englisch Insel) im städtischen Kontext: Verkehrsinsel
3. Eye-land (Augen-Land)
4. I-land (Ich-Land)
in jedem der Fälle werden landschaftliche Assoziationen evoziert.

Nun, und ich komme zum Paradox, nun lebt und arbeitet Stephanie aber in Stuttgart – und Stuttgart, das ist die These: Stuttgarts Topographie negiert Landschaft.
Zur Erfahrung von Landschaft gehört zwingend die Horizontlinie oder Horizontale und dieser weicht Stuttgarts Topographie zweifach aus.
Nach unten fällt und verschwindet die Horizontale im Stuttgarter Kessel – nach oben wird die Horizontlinie vom allgegenwärtigen Stuttgarter Symbol, dem Fernsehturm, himmelwärts verwiesen. Wie ein überdimensionaler deutender Zeigefinger lenkt der Fernsehturm unseren Blick nach oben.
Anders ausgedrückt: Stuttgart fehlt die sinnlich erfahrbare Mittelebene. Die Horizontale ist auf abstrakte Konstruktion und gedankliche Imagination beschränkt.

Es wäre sicherlich lohnend unter diesem Gesichtspunkt der Frage nachzugehen, warum Stuttgart so zahlreiche berühmte Künstler hervorgebracht hat, die sich der Abstraktion verschrieben.

Wie kann also ausgerechnet eine Stuttgarter Künstlerin Landschaft, Stadtlandschaft zu ihrem Sujet machen?
Stephanie Bollinger löst das Paradox, indem sie die Stuttgarter Landschaftsnegation radikalisiert. Es ist ja schon bezeichnend, dass eine Stadt, die ihre Horizontlinie in den Kessel fallen läßt, in zusätzlicher radikaler Konsequenz, die Menschen, die sie durchqueren, unter die Erde verbannt. Ich glaube in keiner anderen deutschen Großstadt gibt es annähernd so viele Tunnel wie in Stuttgart und künftig soll auch noch ein unterirdischer Bahnhof entstehen...
Stephanie Bollinger hat die Stuttgarter Tunnel mehrfach künstlerisch verarbeitet.
Während die Protagonisten der letzten großen Bewegung der Landschaftsmalerei, die Impressionisten, in revolutionärer Geste aus den Ateliers in die freie Landschaft stützten, um pleinair, unter freiem Himmel zu malen, findet Stephanie Bollinger die Stuttgarter Stadtlandschaft im Untergrund.
In einer Werkserie Mitte der 90er gießt sie Modelle unterirdischer Tunnel-Labyrinthe mit Gips aus und verkehrt so das Immaterielle des Tunnels in eine kubische und haptisch greifbare Form.

Aber noch etwas anders geschieht, wenn die Künstlerin Landschaft in plastische Modelle formt, wie zum Beispiel auch hier bei den vier Arbeiten dieser Ausstellung Tal, Ufer, Plateau, Bergüberhang.
Landschaft ist immer ein Bewegungsraum, ein optisch definiertes Gebiet, das ich zu Fuß durchschreite oder mit den Augen durchmesse. Wahrnehmung von Landschaft ist immer prozessual und zeitlich.
Wenn Stephanie Bollinger nun Landschaften oder Bewegungsräume in kubische Formen gießt geschieht zweierlei:
 

  • Erstens biographisiert sie ihr Material, indem sie ihm persönliche Zeit, ihre Erfahrung eines landschaftlichen Raumes einschreibt (ich erinnere hier an die Beuys‘sche Material-Biographisierung).
  • Zweitens läßt sie Zeit gerinnen. Sie verdichtet einen Landschaftsraum, der mit Auge oder zu Fuß durchmessen sein will, in ein Objekt, das dem Betrachter abgeschlossen gegenübertritt.

  • Wenn Nicolas Poussin mit Et in Arcadia ego eine verlorene Zeit, das goldene Zeitalter, betrauert und gleichzeitig über das memento mori ins aktive nutze den Tag - carpe diem verkehrt, so geschieht bei Stephanie Bollinger ganz Ähnliches. In ihren Landschaftsobjekten ist die Zeit geronnen, ein Erlebnisraum unwiederbringlich im Objekt aufgehoben. Und dieser Unwiederbringlichkeit, diesem Statischen, ist dialektisch die Aufforderung zur Handlung miteingeschrieben.


Nutzen sie den Tag – besser: nutzen sie diesen Abend vor diesen Objekten, es gibt viel zu entdecken.
 
 

-- Rede-Manuskript: es gilt das geprochene Wort--